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Wolf-Detlef Rost

Ambulante Psychotherapie des Alkoholismus

(Papier zur Einführung in Arbeitsgruppen, Benediktbeuern 21. 2. 2014)

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Ich möchte Ihnen zur Einführung einen Einblick in die ambulante Psychotherapie mit Alkoholikern geben. Seit fast 30 Jahren arbeite ich in ambulanter Therapie mit Süchtigen, die inzwischen den größten Teil meiner Praxisklientel ausmachen. Aufgrund meiner Publikationen zur psychoanalytisch orientierten Arbeit mit Abhängigen überweisen mir die Gießener Kollegen gerne süchtige Patienten, die bei den Psychotherapeuten im allgemeinen und den Psychoanalytikern im besonderen als „undankbare“, für ambulante Therapie ungeeignete Patienten gelten. Ich behaupte manchmal scherzhaft, die beste Verhinderungstaktik bei der Suche nach einem Psychotherapieplatz sei die, bereits am Telefon anzugeben, man habe ein Suchtproblem - gleichgültig, wie viele Jahre der letzte Rückfall zurückliegt. Ein solcher Patient wird dann bereits am Telefon abgewimmelt - oder eben an mich oder einige andere, auch „nicht so ganz ernst zu nehmende Kollegen“ weiter überwiesen. Unter diesen abgewimmelten Patienten befinden sich oft meine Interessantesten.
Ich verstehe die ambulante psychotherapeutische Arbeit mit Süchtigen als einen sehr langfristig angelegten Prozeß, in dem es darum geht, mit den erworbenen psychischen Strukturen zu leben, da sich die schwereren Grundstörungen therapeutisch nicht wirklich beheben lassen. Die therapeutische Unterstützung  fängt dann damit an, die Patienten über die lange Phase ihrer Schlafstörungen zu begleiten und zu stützen und ihnen im Umgang mit den Frustrationen und Problemen des Alltags zu helfen.


Ich arbeite niederfrequent, d.h. mit einer Wochenstunde im Sitzen; nur bei der Voraussetzung einer längeren Suchtmittelabstinenz (mindestens zwei Jahre) erscheint mir eine höherfrequente und eher aufdeckende therapeutische Arbeit (zwei bis drei Wochenstunden) sinnvoll. Wann immer es von der Struktur her möglich ist beantrage ich eine analytische Psychotherapie mit dem Ziel, die der Sucht zugrundeliegenden Konflikte und Störungen zu bearbeiten.

Ambulante Arbeit muß ohne Sanktionen und Kontrollen funktionieren und unterscheidet sich damit klar von der stationären. Wenn ich den Patienten nur einmal die Woche sehe, kann ich nicht wissen, was er die anderen sechs Tage macht. Grundlage ist daher das Vertrauen in den Patienten und seine Offenheit. Bisher habe ich in der Praxis noch jeden Rückfall nach recht kurzer Zeit erfahren. Vorbedingung ist dabei, daß ich nicht mit dem Therapieabbruch drohe, d.h.: wenn ich mich einmal auf die Behandlung eingelassen habe, muß ich zu meinem Angebot stehen - über alle therapeutischen Krisen hinweg, zu denen eben auch das Wiederauftreten des ursprünglichen Symptoms in Form des Suchtmittelrückfalls gehört.
Einschränken muß ich die psychoanalytische Methode für Abhängige ausdrücklich hinsichtlich der Behandlungstechnik. Ich möchte hier klarstellen: ich arbeite mit Süchtigen nicht in einer klassisch-analytischen Technik, was konkret bedeutet: ich sitze dem Patienten gegenüber, er liegt nicht auf der Couch; ich arbeite mit ein bis höchstens zwei Wochenstunden über einen möglichst langen Zeitraum und nicht höherfrequent. Ich bediene mich einer aktiven Technik, d.h. ich interveniere oft, frage nach, bin nicht klassisch-abstinent, sondern zeige meine Gefühle, äußere meine Meinung. Von Heigl-Evers u.a. wird dies das „Prinzip Antwort“ genannt. Die Patienten haben das Recht, mich im Notfall anzurufen. Dies Angebot wird weit seltener genutzt, geschweige denn mißbraucht, als das klassisch-abstinente Kollegen wahrscheinlich fürchten. Ich verwende also ein weniger regressionsförderndes Setting, da ich angesichts der destruktiven inneren Objekte des Süchtigen fürchte, der Geister, die ich rief, ansonsten nicht Herr zu werden. Da jeder Sucht immer auch eine Beziehungsstörung zugrunde liegt, ist es für den Patienten wichtig, eine möglichst lange therapeutische Beziehung zu erfahren, die ihn durch den dornenreichen Weg seiner Abstinenz und die Begegnung mit den eigenen Anteilen, „den Leichen im Keller“ begleitet. Dieser mehrjährige therapeutische Prozess ist meines Erachtens einer kürzeren und intensiveren Analyse vorzuziehen, nach der der Patient erneut sich selbst und seinen destruktiven inneren Objekten hilflos ausgeliefert wäre. Schon Adams (1978) hielt bei Süchtigen einen ca. sieben Jahre lang dauernden Behandlungsprozess für sinnvoll. Nach der psychoanalytischen Theorie der Behandlung ist zwar gerade die in der intensiven Analyse entstehende Abhängigkeit vom Analytiker ein zentraler therapeutischer Wirkfaktor, soll der Patient doch die hier erlebte Abhängigkeit positiver erleben als seine primäre, und durch diese Erfahrung seine verinnerlichten Objektbeziehungen (Objektrepräsentanzen) „heilen“. Rein theoretisch könnte dies gerade für den Süchtigen die Methode der Wahl sein, hat er sich doch stets vor der - unkontrollierbaren - Abhängigkeit von den personalen Objekten in die Abhängigkeit von den – scheinbar beherrschbaren - stofflichen Objekten ist gleich Suchtmitteln geflüchtet. Manche gescheiterte Analyse belegt jedoch, dass dieser Prozess oft stecken bleibt, selbst bei Lehranalysen, wie es z.B. in dem vielgelesenen Buch von Dörte von Drigalski „Blumen auf Granit“ (1980) beschrieben wurde.

Gerade der Süchtige hat in aller Regel traumatisierende primäre Objektbeziehungen erfahren (Reinert 2004) und flieht die personalen Objekte ja nicht ohne Grund. Er wird der Abhängigkeit in der Behandlung daher nicht nur große Widerstände entgegensetzen, sondern die Gefahr einer Retraumatisierung in der Therapie ist dann groß, weil der Analytiker unter Umständen nicht in der Lage sein wird, alle auftretenden Krisen aufzufangen, Destruktion und Haß in der Übertragung auszuhalten, die freigesetzten Wünsche und Bedürfnisse zu stillen. Hinzu kommt, dass man seltenst das Privileg genießt Patienten zu finden, die über die 300-Stunden-Grenze hinaus bezahlen könnten, und in der analytischen Bearbeitung der schweren und destruktiven inneren Prozesse, die einer Sucht zugrunde liegen, sind 300 oder selbst 360 Stunden nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Ungünstigstenfalls wird diese Grenze gerade dann erreicht, wenn sich der Patient in tiefster Regression und Abhängigkeit befindet.
Hochfrequente , regressionsfördernde Therapien mit Süchtigen, die dann um die 1000 Stunden dauern, hat in den letzten Jahren der Adlerianische Analytiker Thomas Reinert beschrieben.
Ich selegiere relativ wenig bei der Auswahl meiner Patienten, d.h. ich behandele derzeit sowohl Abhängige, die die Therapie nach langjähriger Sucht und dadurch bedingter krimineller Karriere als Gerichtsauflage machen, wie sogenannte „Edelalkoholiker“, also sozial integrierte und materiell gut gestellte Akademiker oder Geschäftsleute.
Bedingung für eine ambulante Therapie bei mir ist die Fähigkeit zu einer zumindest zeitweiligen Abstinenz. Süchtige in einem total „nassen Stadium“ kann ich nicht behandeln. Ich vermittele diese in eine stationäre Entgiftung, bzw. Entwöhnung. Optimalerweise behandele ich im Anschluß an eine stationäre Entwöhnung. Dies ist aber nicht immer zu leisten, und nicht wenige, auch schwerst-Abhängige erreichen eine Abstinenz übrigens auch ohne Klinik. Die Bandbreite der stationären Vorbehandlungen bei meinen Patienten variiert somit von Null Tagen bis über drei Jahre. Ich schließe mit meinen Patienten einen mündlichen Behandlungsvertrag, der etwa folgendermaßen lautet:


„Ihre Behandlung sollte unter Abstinenz von Suchtmitteln erfolgen. Da ich Sie aber nur ein / zwei mal die Woche sehe, kann und will ich dies im Gegensatz zu einer stationären Einrichtung nicht kontrollieren. Die Grundlage unserer therapeutischen Beziehung ist die Offenheit und das Vertrauen, gerade hinsichtlich des Suchtmittels; deshalb kann ich einen Rückfall auch nicht sanktionieren, weil ich Sie sonst zum Lügen verführen würde. Wenn Sie mir einen Rückfall verschweigen, belügen Sie nicht mich, sondern im Endeffekt sich selbst, weil die therapeutische Arbeit dann sinnlos wird.“


Natürlich wird mir nicht jeder Rückfall sofort gestanden, aber ich glaube, es hat noch nie länger als vier Wochen gedauert, bis er mir dann doch „gebeichtet“ wurde und bearbeitbar war. Wenn sich abzeichnet, daß ein Patient tiefer in seine Sucht abrutscht, muß eine stationäre Entgiftung, ggfs. auch Entwöhnung zwischengeschaltet werden. Der Patient hat dabei die Zusage, daß er nach Ablauf dieser stationären Behandlung zu mir zurückkommen kann. Wenn auch mit anfänglichem Widerstreben, ließ sich bisher noch jeder Patient, wenn notwendig, zur stationären Therapie motivieren.


Zusammenfassend halte ich folgende Änderungen des „klassischen“ Settings für erforderlich:

  • Die Vermeidung übermäßiger Regression, um den Patienten nicht zu sehr unter Druck zu bringen, womit sonst ein destruktives – meist autodestruktives – Agieren oder ein Suchtmittelrückfall ausgelöst werden könnte.
  • In den produzierten Erinnerungen darauf achten, dass nicht nur negatives Material berichtet wird, um einer malignen Regression entgegenzuwirken; stattdessen auch positive Erinnerungen fördern.
  • Mit den gesunden Anteilen arbeiten und diese verstärken.
  • Das Setting zumindest anfänglich eher im Sitzen als im Liegen halten, damit der Therapeut in seinen Reaktionen und Gefühlen als Realperson wahrgenommen werden und als Modell dienen kann.
  • Eine aktivere Technik mit häufigeren Interventionen, Nachfragen, dem Spiegeln und Benennen von Gefühlen, notfalls auch „Verboten“, was heißt: klare Position beziehen gegen ein destruktives Agieren. Diese Prinzipien finden sich auch in der psychoanalytisch-interaktionellen Psychotherapie nach Heigl-Evers.
  • Eine stärker supportive Technik mit durchaus „verhaltenstherapeutischen Elementen“ wie z.B. positiven Verstärkungen, gegebenenfalls aber auch deutlichen. Konfrontationen oder Anweisungen; das bedeutet auch:
  • Eine Relativierung der analytischen Abstinenz; weniger Deutungen und andere genetische Interpretationen; überwiegend wird im „Hier und Jetzt“ gearbeitet.
  • Sich dabei durchaus auch mal „vom Patienten leiten lassen“ und dessen Anregungen und Wünsche hinsichtlich der Technik und des Settings aufgreifen. 
  • Das Leitsymptom „Sucht“ stets im Auge behalten; eine Laisser-faire-Haltung gegenüber dem Suchtmittel ist nicht akzeptabel; die Abstinenz des Patienten ist stets zu stützen und als Behandlungsbasis zu fordern; Rückfallängste („Saufdruck“) sind immer ernst zu nehmen und sind oft auch als Ausdruck von Krisen der therapeutischen Beziehung zu verstehen und zu bearbeiten.
  • Zumindest anfänglich ein Tolerieren von „Nebenübertragungen“; das zutage tretende destruktive Potential kann unter Umständen nicht allein in der Übertragungsbeziehung gehalten und bearbeitet werden, so dass ein Agieren im Außen eine Entlastung der therapeutischen Beziehung darstellen kann. Damit geht einher.
  • Das Herstellen von und Arbeiten mit einer überwiegend positiven Übertragung auf den Therapeuten.

 


 

Da ich immer wieder nach dem Rückfall in der ambulanten Behandlung gefragt werde, hierzu ein Beispiel aus der Praxis:


Herr E. ruft mich an und beichtet, daß er eine Flasche Wein getrunken hat. Herr E., den ich seit vier Jahren kenne, ist zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre trocken gewesen. Ich bin überaus beunruhigt, denn ich kenne Herrn E. als einen Patienten, der unter Alkohol eine ganz außergewöhnliche Autodestruktivität entwickelt. Unvergeßlich bleibt mir das Erstgespräch, das ich vor vier Jahren mit ihm hatte, mit deutlichen Strangulationsstreifen am Hals, nachdem ihn seine Frau nur zwei Tage zuvor eher zufällig, bereits bewußtlos in der Garage am Strick hängend fand, und ihn vom Notarzt reanimieren lassen mußte. Herr E. weist eine langjährige Suchtkarriere mit einer Vielzahl äußerst gewaltsamer und destruktiver Suizidversuche auf. Er hat jetzt Angst, daß mit diesem Rückfall „alles aus ist“, und seine Frau, von der er sich sehr abhängig erlebt, ihn verläßt. Ich verordne ihm zunächst, das Bett nicht mehr zu verlassen, allen Konflikten mit seiner Frau aus dem Weg zu gehen, und gebe ihm am nächsten Tag zusammen mit seiner Frau einen zusätzlichen Termin.
Folgender Hintergrund dieses Rückfalls zeichnet sich ab: Herr E. hat im vorausgegangenen Jahr außerordentlich viel geleistet. Er hat mit seiner Frau zusammen sein Wunschhaus gebaut, in das er gerade vor drei Wochen eingezogen ist. Vor sechs Jahren hatte er das 2. Lehrerexamen absolviert, ohne damals eine Anstellung zu bekommen, und sich seitdem in verschiedenen Jobs, zuletzt als Pharmareferent, durchgeschlagen. Jetzt hat er überraschend doch noch eine Lehrerstelle bekommen und ist seit fünf Wochen an der Schule, was ihm großen Spaß macht. Ferner hat er drei Tage vor diesem Rückfall seinen Führerschein wiederbekommen, um den er zwei Jahre lang mit der MPU gekämpft hat. Er hat nun alles, was er sich wünschte: Führerschein, Familie, Haus, Lehrerstelle. Vor Erschöpfung hat ihn jetzt ein schwerer grippaler Infekt erwischt, und statt Glücksgefühl empfindet er Leere. Zudem mißtraut seine Frau seiner Abstinenz, da er sich mit Abebben des Dauerstresses hängen läßt - und nun hat er getrunken!


Im Gespräch am nächsten Tag ist die Atmosphäre zwischen Herrn und Frau E. eisig. Zwar hat er seit gestern nichts mehr getrunken, aber Frau E. macht ihm schwerste Vorwürfe und beobachtet ihn mit größtem Mißtrauen und düsteren Prophezeiungen. Die nächsten zwei Wochen lassen sich diese Anspannung und der Druck nicht auflösen. Herr E. ist krankgeschrieben, und wenn seine Frau von der Arbeit wiederkommt, beriecht sie ihn nach Alkohol und behauptet solange, er habe getrunken, bis Herr E. dies aus lauter Wut und Trotz wirklich macht und jetzt exzessiv trinkt. Es kommt zu einer erneuten Telefonintervention meinerseits, sowohl mit Herrn wie mit Frau E. Ich telefoniere sehr ungern mit Angehörigen, aber in dieser Situation erscheint es mir unabdingbar, um die beiden auseinanderzuhalten. Der Rückfall dauert drei Tage, diesmal ohne Suizidversuch. Herr E. kommt nüchtern, wenn auch mit leichten Entzugserscheinungen, zu seinem nächsten regulären Termin. Der Rückfall läßt sich jetzt besprechen: das permanente Gefühl der Kontrolle und des Drucks in der Beziehung, wobei seine Frau für Herrn E. die erste und einzige Beziehung ist; die Sinnfrage, nachdem er jetzt all seine Ziele erreicht hat, die Unfähigkeit, sich nach allen Anstrengungen fallen zu lassen und zu entspannen, und die Selbstzweifel, ob alles, was er erreicht hat, ihm wirklich zusteht. In den nächsten Wochen sind sowohl die therapeutischen Gespräche wie die zwischen Herrn und Frau E. intensiver und tiefgründiger. Herr E. hat diese schwere Krise, die ein gutes Jahr später zur Trennung und Scheidung führte, überstanden und ist nicht wieder manifest abhängig geworden.


Sie merken: entgegen vielen klassischen Ansätzen in der Suchtbehandlung breche ich den Kontakt im Rückfall nicht ab, sondern suche ihn aufrechtzuerhalten. Gerade bei hochsuizidalen Alkoholikern wie Herrn E. ist dies m.E. eine Frage auf Leben oder Tod. 
Um dies nochmals herauszuheben: solche Krisentelefonate sind eher die Ausnahme. 

 


 

Das tägliche Brot meiner Arbeit sind seit Jahren trockene Abhängige, die in der Abstinenz große Anpassungsprobleme haben, mit ihren Gefühlen nicht zurechtkommen, depressiv sind, massive Ängste entwickeln, sich mit Schuldgefühlen quälen, kurz: mit ihrem Leben nicht klar kommen. So formulierte ein seit fünf Jahren abstinenter Polytoxikomaner, der nüchtern sämtliche sozialen Kontakte abgebrochen hatte, vor Angst am ganzen Körper zitterte und sich in seiner Wohnung verkroch wie ein Tier in seiner Höhle, in der Therapie mir gegenüber: „Solange ich noch getrunken habe, hatte ich ja gar keine Ahnung, wie schlecht es mir wirklich geht“, eine Aussage, die auch schon von anderen meiner Patienten gehört habe.


Probleme in der ambulanten Behandlung mit Süchtigen sind immer wieder Symptomwechsel, sowohl „suchtimmanent“, insbesondere Verlagerungen auf das Glücksspiel bei Männern und Eßstörungen bei Frauen, oder auf andere Symptome, besonders Ängste und Depressionen, aber auch psychosomatische Erkrankungen sowie Zwänge. Besonders problematisch ist der Umgang mit Patienten, die sehr autodestruktiv sind und in dieser Hinsicht neue Symptome entwickeln, z.B. in Form von schweren Erkrankungen, Unfällen, „Schnippeln und Aderlaß“, Suizidversuchen etc. Hier muß versucht werden, gesunde Selbstanteile zu stärken und die „Erlaubnis zum Leben“ zu ermöglichen. 
Hinsichtlich der Zwangsproblematik ist anzumerken, daß Süchtige in der Regel ein überstrenges Überich bzw. sehr hohes Ichideal besitzen und in hohem Maße zu Schuldgefühl neigen. Ganz im Gegensatz zu den Überich-orientierten Behandlungsansätzen in der stationären Therapie geht es mir daher darum, dieses Überich zu entlasten, es zu lockern, die Strenge sich selbst gegenüber zu mildern und Lebensfreude zu ermöglichen. Es ist bekannt, daß viele Alkoholiker nicht nur trocken bleiben hinsichtlich des Alkohols, sondern auch innerlich vertrocknen, keine Freude am Leben haben. Eine längerfristig angelegte ambulante Therapie muß daher gerade genußfördernd angelegt sein, den Patienten  dazu verhelfen, Genuß und Freude auch ohne Suchtmittel zu suchen, denn gerade die Fähigkeiten zur Selbstbelohnung und Entspannung aus eigener Kraft sind bei ihnen verkümmert. Dabei versuche ich auch das übermäßige Bemühen, sich an die Gesellschaft anzupassen einzudämmen und den Patienten zu ermöglichen, mit ihren Eigenheiten zu leben. Der Süchtige fühlt sich primär anormal und fremd den anderen gegenüber. Das Suchtmittel gibt ihm die Möglichkeit, sich normal zu fühlen und die Fremdheit anderen gegenüber zu überwinden. Die Anpassung versucht er in der Abstinenz mit anderen Mitteln zu erreichen. Auch wenn Süchtige nach Außen hin oft sehr unangepaßt erscheinen, haben sie soziale Normen und Ansprüche in einem hohen Maße verinnerlicht und sind frustriert, wenn sie nicht angepaßt und erfolgreich leben können.


Ich bemühe mich darum, daß die Patienten parallel zur ambulanten Behandlung eine Selbsthilfegruppe besuchen, da ich nicht in jeder Krisensituation bereit stehen kann und in der Psychotherapie nicht den alltäglichen Kampf, „das erste Glas stehenzulassen“ zum Hauptthema machen will. Allerdings darf nicht unterschätzt werden, daß nicht wenige Süchtige einfach nicht Gruppen-geeignet sind und hier keinen Fuß fassen können; sie bekommen in Gruppen Schweißausbrüche und Angstzustände und können die Gruppensituation einfach nicht ertragen.


Viele Patienten suchen erst nach einer längeren Abstinenz von fünf bis sieben Jahren eine Behandlung auf, wenn der „Kampf gegen das erste Glas“ zur Selbstverständlichkeit geworden ist, eine erneute Unruhe und Suchen beginnt. Viele trockene Alkoholiker erleben das als „Saufdruck“. Meine Erfahrung aus der ambulanten Behandlung ist übrigens, daß jedes stärkere Gefühl, das nicht sofort bewältigt werden kann, als „Saufdruck“ bezeichnet wird. Meine eindrücklichste Erfahrung war hier mit einer etwa 34-jährigen, seit mehr als fünf Jahren trockenen Alkoholikerin, die bei mir bereits eine hundertstündige Psychotherapie absolviert hatte. Sie suchte mich später, mehr als ein Jahr nach Abschluß dieser Behandlung, zu einer Krisenintervention auf, weil sie so einen starken „Saufdruck“ verspüre. Das Gespräch mit ihr ergab, daß sie sich schlicht und ergreifend das erste mal seit Jahren erlaubt hatte, sich zu verlieben, jedoch unfähig war, mit diesem Gefühl umzugehen, ja es nicht einmal als solches erkannte.
Kommt ein Patient nach mehrjähriger Abstinenz, ist in einzelnen Fällen durchaus eine normale „Neurosentherapie“ oder auch eine Psychoanalyse möglich. Einzelne sind jedoch auch nach jahrelanger Abstinenz wie „frisch trockengelegt“. Ein trockener Alkholiker mußte sich auch nach 20 Jahren konsequenter Abstinenz noch seinen Alltag zwanghaft strukturieren, war emotional überaus labil, und drohte durch jede stärkere Gefühlswallung vollständig aus dem Tritt zu geraten.
Seit Jahren besteht mehr als zwei Drittel meiner ambulanten Praxis aus süchtigen Patienten. Es finden sich unter ihnen die unterschiedlichsten Fälle; nicht in allen Fällen verlief die Behandlung erfolgreich, jedoch kann ich nicht behaupten, daß ungünstige Therapieverläufe bei Süchtigen häufiger als etwa bei Neurotikern oder bei psychosomatisch erkrankten Patienten auftreten würden. Inzwischen überschaue ich eine große Zahl von Langzeitverläufen und kann daher festhalten, daß die langfristige Arbeit mit schwer gestörten, süchtigen Patienten durchaus befriedigend und erfolgreich verlaufen kann. Dabei bestreite ich natürlich nicht, daß es eine spezifische Auswahl von Süchtigen ist, die den Weg in eine ambulante psychotherapeutische Praxis findet.


Ich plädiere entschieden dafür, Süchtige auch in eine analytische bzw. tiefenpsychologische Behandlung zu nehmen und sie nicht in Selbsthilfe, Beratungsstellen oder Verhaltenstherapie abzuschieben. Warnen möchte ich jedoch vor einer Laisser-faire-Haltung gegenüber dem Suchtmittel. Trockene Alkoholiker würden sich dadurch nicht ernst genommen, in ihrer Ich-Leistung der Abstinenzerlangung nicht respektiert fühlen. Ein übersehener bzw. bagatellisierter Suchtmittelabusus ist m.E. einer der häufigsten Gründe für das Scheitern analytischer Behandlungen. Deutungen und scheinbar gewonnene Einsichten werden hier immer wieder buchstäblich „weggespült“ und können nicht verinnerlicht werden, und der Analytiker ist als Übertragungsobjekt nicht mehr relevant. Das ambivalent besetzte Suchtmittel ist dann immer wieder das mächtigere Liebesobjekt, mit dem die inneren Konflikte agiert und so der Bearbeitung entzogen werden.