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Wolf-Detlef Rost

Wolf-Detlef Rost Kreativität und Sucht - zwei Seiten einer Medaille ?

Alkoholismus und literarisches Schreiben bei Hans Fallada – Zuerst publiziert in Psychoszial Jg. 33, Nr. 121, Heft 3, (Hrsg. G. Bruns und F. Winter), S.119-130.

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Schriftsteller und Alkohol – ein Überblick


„The Writer`s disease“ - die Krankheit der Schriftsteller. In Amerika gilt es als selbstverständlich, dass Alkoholismus und Literatur fast untrennbar miteinander verbunden sind. Von sieben amerikanischen Literaturnobelpreisträgern waren fünf Alkoholiker: Sinclair Lewis, Eugene O`Neill, William Faulkner, Ernest Hemingway und John Steinbeck. Die beiden einzigen Ausnahmen auf der Liste der Nobelpreisträger, so Goodwin (2000) etwas ironisch, seien eine Frau: Pearl S. Buck, und ein Jude, Saul Bellow, der heute so gut wie vergessen sei.

George Wedge hat eine Liste von 150 namhaften amerikanischen Autoren zusammengestellt, die Alkoholiker waren. Je nach Genauigkeit des Hinschauens wird in den unterschiedlichen Erhebungen der Anteil der Alkoholiker an den Schriftstellern irgendwo zwischen 30 und 90 Prozent geschätzt.

Handelt es sich hier vielleicht um ein amerikanisches Phänomen, da die Amerikaner ein spezifisch gebrochenes und moralisch vorbelastetes Verhältnis zum Alkohol haben? Das kann mit Sicherheit verneint werden. Es ist praktisch kein irischer, russischer oder polnischer Autor bekannt, der dem Alkohol nicht verfallen gewesen wäre. Und in Deutschland? Wie ich im Folgenden zeigen möchte, gibt es in dieser Hinsicht zu unserer Kultur allenfalls graduelle Unterschiede. Hier wie anderswo sind Sucht und Kreativität fast untrennbar miteinander verbunden. Dass dies in Deutschland weniger bewußt ist als in anderen Ländern hat andere Ursachen.

Wir sind es in Mitteleuropa gewohnt, Intimsphäre und Lebensweise von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, seien es nun Politiker oder Kulturschaffende, diskreter und zurückhaltender zu behandeln. Auch in Biographien, die erst nach dem Tod des Betreffenden verfasst werden, sieht man über kleine Fehler, Schwächen und Krankheiten, zu denen oft genug das übermäßige Trinken gehört, großzügig hinweg, zerrt nicht alles ans Licht der Öffentlichkeit. Hinzu kommt, dass wir oft einen „blinden Fleck“ gegenüber dem Alkoholismus zeigen, was nicht zuletzt gerade für die psychoanalytische Profession gilt. Über manche ausgefallene Perversion oder seltene psychosomatische Erkrankung finden sich mehr Publikationen. Ein leichtfertig übersehener bzw. bagatellisierter Alkoholismus ist einer der häufigsten Gründe für das Scheitern so mancher Langzeitanalyse, nämlich dann, wenn die therapeutische Beziehung und die aus ihr gewonnenen Einsichten hartnäckig „weggespült“ werden und der Alkohol als Bezugsobjekt wichtiger bleibt als der Analytiker.

Die Distanz der Psychoanalytiker gegenüber der Sucht wirkt sich nicht nur in der therapeutischen Praxis aus, sondern auch in der psychoanalytisch beeinflussten Biographie- und Literaturforschung. Bis heute fehlt es an einer differenzierten psychoanalytischen Studie über den Zusammenhang von Kreativität und Sucht, obwohl es insgesamt nicht an Literatur zu diesem Thema mangelt. Als „Klassiker“ gilt heute z.B. das 1995 übersetzte und oben schon erwähnte Buch „Alkohol und Autor“ des amerikanischen Psychiaters Donald Goodwin (2000), das die Suchtproblematik allerdings überaus oberflächlich behandelt und der Tendenz der neueren Psychiatrie à la ICD 10 folgt, unter Verzicht auf jede Tiefensicht oder gar die Dimension unbewusster Prozesse in der Betrachtung auf der vordergründig beobachtbaren Verhaltensebene zu bleiben.

Beginnen wir hier dennoch mit den Thesen Goodwins:

Als eine der Quellen des Alkholabusus von Schriftstellern sieht er das Bedürfnis nach Inspiration. Danach könne der Alkohol Ideen und Gefühle freisetzen, Hemmungen beseitigen, und damit den Schreibprozess fördern. Dieser Gedanke ist hinlänglich bekannt und steht sicherlich nicht in Frage. Die Hauptstütze der Überlegungen Goodwins ist jedoch seine Einzelgänger-Theorie. Er zitiert hierzu den Historiker Ostrander: „Alkoholismus ist grundsätzlich eine Krankheit von Individualisten. Sie betrifft Menschen, die seit frühester Kindheit das intensive Gefühl seelischer Einsamkeit entwickeln und überzeugt sind, in der Welt auf sich allein gestellt zu sein. Diese einsiedlerische Haltung verhindert, dass sie durch Kontakt mit anderen Menschen jene emotionale Erleichterung verspüren, die sie im Alkohol finden. Also werden sie in gleicher Weise abhängig von Alkohol, wie andere Menschen von ihren zwischenmenschlichen Beziehungen, von ihren Freunden und Verwandten. Auch Schriftsteller sind Einzelgänger. ... Es geht hier um einen Beruf, der es dem einzelnen Menschen erlaubt, ganz alleine mit sich unheimlich gesellig zu sein ... Schreiben und Trinken sind zwei Arten, nicht allein sein zu müssen.“ (Goodwin 2000, 310f)

Tatsächlich ist der Prozess des Schreibens ein einsamer, der den Rückzug auf sich selbst erfordert. Dies kann jedoch nicht die einzige Verbindung zwischen Literatur und Alkohol sein, denn hier sollte Widerspruch angemeldet werden. Zum einen ist von nicht wenigen Schriftstellern bekannt, dass sie untereinander recht intensive Freundschaften und Geselligkeit pflegen, zum anderen, dass die meisten namhaften Autoren eine ziemlich enge, oft abhängige Bindung an eine Frau oder „Muse“ hatten, die ihnen überhaupt erst den Raum zum Schreiben frei schaffte, wie dies Theweleit (1996) analysiert hat.

Des weiteren, und dies ist die nächste Einschränkung, findet sich der Alkoholismus vermehrt nicht nur bei Schriftstellern, sondern auch bei Musikern und Malern und eben auch in den neueren und „sozialeren“ Kulturformen wie bei Rockmusikern, Theater- und Filmschauspielern und Regisseuren. Fahren wir daher in Goodwins Materialsammlung fort, die neben der Einsamkeit auch anderes Leid, wenn auch eher kursorisch, anmerkt.

Der Autor William McIllwain stellt fest: „Vielleicht kann ein Schriftsteller all die Dinge, die er so klar sieht, einfach nicht aushalten ... und muss deshalb diese schmerzhaft blendende Klarheit trüben.“ (Goodwin 2000, S. 314) Dazu Goodwin weiter: „Lowry (>Unter dem Vulkan<) sagte, er fühle sich, als sei er ohne Haut zur Welt gekommen. Faulkner trank manchmal, weil nach der Spannung des Schreibens die große Erschöpfung einsetzte: ´Ich habe das Gefühl, meine Nervenenden liegen bloß´“ (S. 314).

Die Einsamkeit des Schriftstellers ist nicht nur etwas Äußerliches, sondern Ausdruck seiner Unfähigkeit, sich unter seinen Mitmenschen zu Hause zu fühlen. Und neben diversen psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen bis hin zur Schizophrenie stellt Goodwin fest, dass wohl ein Drittel aller Autoren unter Angstzuständen zu leiden haben, und: „Alle litten an Schlaflosigkeit. Alle versuchten mit Alkohol und Tabletten dagegen anzukämpfen. Alle hatten Schlafprobleme, sobald sie mit dem Trinken aufhörten“ (S. 317).

Und hier kommen wir allmählich zu jenen Dimensionen, die wohl die eigentlichen Triebkräfte der Kreativität sind. Was ist es, das ein Gedicht, einen Roman, ein Bild oder eine Musik zu einem zeitüberdauernden Werk machen? Natürlich bewirkt dies nicht die gefällige, oberflächliche Spiegelung des Alltags und des Zeitgeistes der Gegenwartsliteratur etwa einer Hera Lind, deren Bücher in zwanzig Jahren niemand mehr in die Hand nehmen wird. Nur wenn ein Roman in seiner Sprache und seinen Bildern an die tieferen Schichten der menschlichen Seele herankommt, wenn er zentrale Fragen unseres menschlichen Daseins berührt, und wenn er etwas von den Gefühlen und seelischen Konflikten des Autors vermitteln kann und den Leser sein Leiden daran erspüren lässt, kann aus einem Buch ein großer Roman werden, der auch in späteren Jahrzehnten noch gelesen werden wird. Und hier, im Leiden an den seelischen Konflikten und den Fragen der menschlichen Existenz, liegt der Schlüssel zur Verbindung zwischen Kreativität und Sucht. Der „Normopath“, der angepasste und mit seinem Leben zufriedene Mensch wird niemals große Kunst schaffen können. Kreativität und Sucht speisen sich aus den gleichen inneren Quellen, wobei ich aber der Auffassung bin, dass dies niemals gleichzeitig oder nebeneinander, sondern allenfalls alternierend erfolgen kann, denn der Alkohol fördert die Kreativität allenfalls im Anfangsstadium, während er in einer späteren Phase unweigerlich zerstörerisch wirkt und jegliche Kreativität verhindert.


Der Schriftsteller Hans Fallada


Ein treffliches Beispiel für dieses Alternieren zwischen Sucht und kreativem Schaffen hat uns der populäre Schriftsteller Hans Fallada – mit richtigem Nahem Rudolf Ditzen - (1893 - 1947) geliefert. In der oben getroffenen Unterscheidung zwischen zeitüberdauernder großer Literatur und gefälliger, den Alltag spiegelnder Gegenwartsliteratur, kann Fallada zwar allenfalls eine Zwischenposition eingeräumt werden. Jedoch hat Fallada dort, wo er sich in seinen Texten als ausgeprägtem Polytoxikomanen selbst am nächsten steht wie in „Der Trinker“ eine noch heute lesenswerte Literatur geschaffen, und außerdem gibt er uns - unter dem Druck der Schreibzensur der Nazis stehend - in seinen autobiographischen Büchern „Damals bei uns daheim“ und „Heute bei und zu Haus“ einen Einblick in sein reales Leben – natürlich auch mit Phantasien und Erdachtem überlagert - wie es auch an biographischen Sekundärquellen über ihn nicht mangelt.

Wie viele seiner Schriftstellerkollegen ist Fallada ein von frühester Kindheit an leidgeplagter Mensch, der niemals glücklich und zufrieden sein kann, und dessen Leben immer wieder „auf der Kippe steht“. Wie ich es auch von vielen „ganz normalen“, also durchaus nicht kreativen Alkoholikern kenne, ist bereits seine Kindheit eine Kette von Krankheiten und Unfällen. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass ich bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr eigentlich alljährlich einmal lebensgefährlich krank gewesen sei, von kleineren Missgeschicken zu schweigen.“ (Manthey 1963, S. 19). Diese „kleineren Missgeschicke“ sind unter anderem schwere Verbrennungen und ein Fahrradunfall mit 15 Jahren, bei dem er von einem Pferdefuhrwerk überrollt wird, einen geplatzten Magen, gebrochenen Kiefer und ein mehrfach gebrochenes Bein davonträgt, drei Monate im Krankenhaus bleibt und ein Jahr lang die Schule versäumt. Letzteres ist für ihn kein großer Verlust, denn obgleich zuhause unter dem autoritären und pedantischen Vater - von Beruf Richter - leidend, ist die Schule und seine Angst vor ihr eine noch viel größere Qual.

„Jeden Morgen beim Aufwachen lag die ganze Penne mit Kameraden, Lehrern, Schularbeiten wie ein Alpdruck vor mir. Wenn ich mich irgend von ihr drücken konnte, tat ich es.“ (Manthey, S. 14). Es vergeht kein Tag, an dem er nicht vor der ganzen Klasse in Tränen ausbricht. „Dies kam soweit, dass die Klasse vor der Lateinstunde Wetten abschloss, ob ich heulen würde oder nicht“ (ebda.) - und den Rest des Vormittages und die Pausen machen ihm die Klassenkameraden zur Hölle. Er ist Außenseiter, Sündenbock der Lehrer, Prügelknabe der Mitschüler. „Ich sehe mich noch stehen, blass, kränklich, verzweifelt, in meinem Mauerwinkel. Die ganze Penne freut sich ihrer Freiviertelstunde, mir war sie eine Qual“ (S. 15).

Fluchtversuche von zuhause, später über die Wandervogelbewegung, bringen den unglücklichen Jungen erneut in Todesnähe und wie so oft ins Krankenhaus. Das erste, unveröffentlicht gebliebene Romanfragment des Jugendlichen heißt; „Unterprima Totleben“ Untertitel; „Gewidmet meiner geliebten unseligen Jugend“. Die Trennung von den Eltern mit 17 erfolgt über ein Zerwürfnis und den ersten Suizidversuch. Beim zweiten, der als gemeinsamer Suizid mit seinem Freund geplant ist, erschießt er diesen und verletzt sich selbst mit zwei Brustschüssen lebensgefährlich. Als man den Eltern - fälschlicherweise - seine Todesnachricht überbringt, bleibt der Ausruf der Mutter überliefert: „Gott sei Dank, wenigstens nichts Sexuelles“. (S. 38). Es folgen Klinik und zwei Jahre geschlossene Psychiatrie.

Es war dies für lange Zeit der letzte direkte Suizidversuch Falladas, und auch körperliche Erkrankungen und Unfälle werden in der Folge nicht mehr bekannt. Denn er hat inzwischen den „protrahierten Selbstmord“, wie ihn Menninger (1974) bezeichnete, entdeckt, den „kleinen Tod“, wie ihn Fallada selber nannte. Er wird schwer morphiumabhängig, macht die erste Entziehungskur mit 23, und entzieht bzw. ersetzt das Morphium immer wieder durch Alkohol. Mit einem immer neuen Wechsel zwischen Opiat- und Alkoholabhängigkeit sowie Kokaingebrauch wird Fallada zum „Vorreiter“ einer Form der Polytoxikomanie, die sich erst in den letzten dreißig Jahren weit verbreitet hat.

Sein Einkommen als Gutsverwalter reicht nicht zur Finanzierung seiner Sucht, so dass er erneut Unterschlagungen begeht. In seinem Drang zur Selbstbestrafung und Selbstvernichtung bezichtigt er sich selbst noch schwererer Vergehen, um im Gefängnis endlich „ganz unten“ halbwegs seine Ruhe finden zu können. Hier gelingt es ihm schließlich, statt Alkohol, Kokain, Morphium oder dem exzessiven Rauchen seine süchtige Seite kreativ zu wenden. Seinem Schreiben, das er seit seiner Jugend zunächst erfolglos betrieb, gelingt der Durchbruch. In „Kleiner Mann was nun“ und „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ verarbeitet er seine Gefängniserfahrungen und wird zum Bestsellerautor. Außerdem lernt er nach dem Gefängnis eine Frau kennen, auf die er sich konstruktiv einlassen kann und die ihn in den folgenden Jahren stützt. Phasenweise gelingt es Fallada darum, abstinent zu bleiben. Er kann seine Gefühle schreibend ausdrücken, seine Erlebnisse und Erfahrungen in seinen Texten verarbeiten. Wie der Fallada-Biograph Jürgen Manthey schreibt: „Etwas Entscheidendes ist geschehen. Fallada hat sein Rausch-Verlangen sublimieren, das Bedürfnis, sich selbst auszulöschen in einen ,schöpferisch-produktiven Akt verwandeln können“. (1963, S. 73)

Fallada selbst ist es nur zu bewusst, dass er süchtig arbeitet, dass seine Werke quasi die Kehrseite der Sucht sind, und er schreibt über das Schreiben:

„Es war wie ein Rausch oft gewesen, aber ein Rausch über alle Räusche, die irdische Mittel spenden können. Noch die schlimmsten Stunden, die ich ganz und gar daran verzweifelt war, wie es weitergehen sollte, schienen mir besser als jetzt meine schönsten Freistunden. Nein, es war schon so, ich hatte von einem Gift getrunken, das ich nicht mehr loswerden konnte aus meinem Körper und Geist, und nun dürstete mich danach, mehr von diesem Gift zu trinken, es immer zu trinken, jeden Tag, den Rest meines Lebens hindurch.“ (Manthey 1963, S. 73)

Wohlgemerkt: hier spricht Fallada nicht von einem stofflichen Gift, sondern über das Schreiben. Aber Fallada handhabt das Schreiben ganz ähnlich wie den Alkohol oder das Morphium, wie er es uns in „Heute bei uns zu Haus“ beschrieben hat. Das Reifen eines Romanthemas in seinem Kopfe schildert er ähnlich, wie der trockene Alkoholiker vom „Saufdruck“ redet. Irgendwann setzt er sich dann zum Schreiben hin. Die ersten Tage arbeitet er noch diszipliniert, „kontrolliert“ für mehrere Stunden am Tag. Dann brechen die Dämme, bricht die Sucht quasi über ihn herein, es kommt zum „Kontrollverlust“. Die Bilder, die Figuren des Romanes überfluten ihn; er kann nicht mehr abschalten, steht mitten in der Nacht auf, macht sich Kaffee, so stark, dass der Löffel darin steht. Dann schreibt er Tag und Nacht durch; Tag- und Nachtrhythmus verlieren sich; er macht nur noch stundenweise Pausen für einen kurzen Erschöpfungsschlaf. In weniger als drei Wochen ist der ganze Roman fertig, und Fallada hat durchaus voluminöse Bücher mit bis zu 1000 Seiten Umfang geschrieben. Anschließend kollabiert er physisch, muss sich noch wochenlang von seiner Erschöpfung im Sanatorium erholen oder von seiner Frau aufgepäppelt werden, die er als „Lämmchen, so weiß wie Schnee“ in seiner Literatur verewigt hat, und mit der er seine ungelöste und letztlich destruktive Mutterbindung auch nicht bewältigen kann, so dass er eines späteren Tages mit der Pistole auf sie schießen wird wie einst in seiner Jugend auf den Freund. Eine ähnliche Art des süchtigen Schaffens wird über den Filmemacher Rainer Werner Faßbinder berichtet, der seine Filme immer in wenigen Wochen süchtig arbeitend abgedreht hat - eine ungeheure Belastung für Schauspieler und Filmteam -, und der schließlich ebenfalls seiner Polytoxikomanie zum Opfer fiel.

Zu diesen produktiven Phasen stellt Manthey fest, Fallada begegne hier „dem inneren Zwang mit einer Transzendenz, die nicht nur etwas auslöschte, sondern auch etwas schuf. Der Schreibrausch wird gleich als so unvergleichlich Glück spendend empfunden, weil die Selbstauslöschung jetzt endlich in einer auch nach außen hin vertretbaren Weise erfolgen kann. Der Kampf mit der dunklen Bewußtseins-Hälfte kann nun im Tageslicht des allgemein Gerechtfertigten und Anerkannten ausgetragen werden. Was ihn bisher von der Umwelt verhängnisvoll absonderte, wird auf einmal zu einem Mittel, mit der Umwelt Kontakt zu bekommen.“ (S. 74)

Während dieser Schreibphasen konsumierte Fallada zwar Unmengen von Kaffee und Zigaretten, aber niemals Alkohol oder Morphium, was seinen Schreibprozess unweigerlich zum Abstürzen gebracht hätte. Doch auch im Schreiben erschöpft er sich durch seine extreme Art des Schaffens ähnlich wie bei einer stofflichen Sucht, und er greift immer häufiger zu Schlafmitteln. Außerdem kommt es ab 1933 - alternierend zu den Schreibphasen - immer wieder zu schweren Rückfällen mit Alkohol. Dies und die daraus folgenden Eskapaden beeinträchtigen die ihn über Jahre tragende Beziehung zu seiner Frau „Suse“. Hinzu kommt, dass die Nazis, die ihn bereits 1933 vorübergehend verhaften ließen, seine dem Sozialismus nahestehende Literatur zunehmend mit dem Bann belegen. In ihrem perfiden Sadismus erkennen sie, dass das probateste Mittel, einen kreativen Menschen zu töten ist, ihn mit einem Schreib- bzw. Publikationsverbot zu belegen, was neben Fallada viele weitere kritische Schriftsteller betraf.

So brennt Falladas Kreativität, seine Schaffenskraft langsam aus. Die Dämonen der Kindheit, Destruktivität und Todessehnsucht nehmen wieder überhand. Er verfällt wieder dem Morphium und liiert sich 1944 mit seiner zweiten Frau, ebenfalls Alkoholikerin und Morphinistin. In seinen letzten Büchern „Jeder stirbt für sich allein“ und „Der Trinker“ gelingt es ihm nochmals, dieser Todessehnsucht einen ergreifenden Ausdruck zu verleihen. So im letzten Kapitel des Trinkers, wo der psychiatrisch hospitalisierte Romanheld den Auswurf der TBC-Kranken trinkt, um sich zu infizieren und in der Todesstunde ein letztes mal ein Glas Alkohol trinken zu dürfen. Fallada schrieb dieses Buch auch tatsächlich während eines Zwangsaufenthaltes 1944 in der Psychiatrie nach dem Schuss auf seine erste Frau „Suse“, das „Lämmchen“. Auch für seine letzten Bücher schafft sich der immer mehr der Sucht verfallende Autor immer noch Phasen der Abstinenz. Seinen einzigen 1945 unter Drogen geschriebenen Roman „Der Alpdruck“ bezeichnet Manthey als ausdrucksflach und imaginationsarm; Fallada selber empfindet das Buch ebenfalls als „missglückt“.

Seine letzten Lebensjahre sind desolat und werden meist in Anstalten und Kliniken verbracht. Ob er letztendlich an einer von seiner zweiten Frau herein geschmuggelten Überdosis Morphium oder einfach an den Folgen seiner langjährigen Sucht stirbt, bleibt umstritten.


Alkohol im Prozess des Schreibens


Fallada erliegt 53-jährig seiner Sucht, und erreicht damit ein für einen Schriftsteller relativ hohes Alter. Christian Schmidt (1994) errechnete für namhafte Schriftsteller eine durchschnittliche Lebenserwartung von 48 Jahren, bis sie dem Alkohol oder, eng mit der Suchtproblematik verwandt, dem Suizid zum Opfer fallen. Vielleicht lag es daran, dass Fallada neben Alkohol überwiegend das für den Körper weniger toxische Morphium konsumierte, was ihm dieses relativ hohe Todesalter ermöglichte.

Die größten und meines Erachtens genialsten süchtigen Autoren, die sich in düsteren Werken mit den destruktiven Seiten der Sucht auseinander setzten starben jedenfalls wesentlich früher. Edgar Allan Poe fiel mit 40 (Alkoholdelir), E. T. A. Hoffmann mit 46 Jahren (Leberzirrhose) dem Alkohol zum Opfer. Gerade in dem phantastischen Schaffen dieser beiden Autoren, die auch Freud wohlbekannt waren, finden sich wichtige Vorläufer zur psychoanalytischen Theorie vom Unbewussten und der Rolle der Phantasien. Daher auch heute noch spannend zu lesen E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ /1816). Gerade dies Büchlein ist auch eines der klassischen Werke der Weltliteratur, in dem Qual und Leiden des Autors zum Ausdruck gebracht werden, die Erinnerungen, die Dämonen und quälenden, traumatisierenden Bilder der Kindheit zur Sprache kommen.

Die größten Werke der Weltliteratur, die sich thematisch direkt mit dem Alkohol beschäftigen, bringen das unerträgliche Leiden der Autoren an ihrer Sucht zum Ausdruck. Es sind dies unter anderem „König Alkohol“ von Jack London, der diesem „König“ trotz der in seinem Buch erreichten Einsichten immer wieder unterlag und sich 40-jährig suizidierte. Oder Joseph Roth, der sich 44-jährig tot trinkt und sich mit diesem finalen Prozess kurz vorher in seiner posthum erschienenen „Legende vom heiligen Trinker“ auseinandergesetzt hat. Malcolm Lowry, der für seinen Alkoholikerroman „Unter dem Vulkan“ den Nobelpreis erhielt, für den Alkohol niemals Verlockung und Genuss, sondern immer nur eine Höllenstrafe war, und der sich 47-jährig mit Alkohol und Schlaftabletten umbrachte.

Keines dieser Werke ist, obwohl sie sich um den Alkohol drehen, unter Alkoholeinfluss geschaffen bzw. durch dessen unmittelbaren Konsum gefördert worden, genauso wenig wie alle anderen Werke der Weltliteratur, die von alkoholabhängigen Autoren geschrieben wurden. Wer annimmt, ein Süchtiger könne alkoholisiert schreiben, versteht den Charakter der Sucht nicht bzw. verwechselt normales mit süchtigem Trinken. So wehrte sich bereits E.T.A. Hoffmann gegen diese Unterstellung, da der Zustand der Trunkenheit durch den „erregte(n) Seelenzustand zwar einen glücklichen genialen Gedanken, nie aber ein in sich gehaltenes, gegründetes Werk erzeugen kann, das eben die größte Besonnenheit erfordert“ (nach Dieckhoff 1982, S. 716).

So vermag der Alkohol zwar den Blick in die inneren Abgründe zu eröffnen, die dann später literarisch verarbeitet werden, kann diese jedoch niemals erschaffen. Keine Droge vermag irgendetwas freizusetzen, was nicht bereits im Menschen angelegt wäre. Auch deshalb gibt es zwar viele alkoholabhängige Schriftsteller, aber nicht jeder Alkoholiker ist zugleich ein verkappter Schriftsteller. Die Droge, der Alkohol vermögen die Tür zum Unbewussten aufzustoßen, aber Form und Gestalt können sie dessen Ausdruck nicht verschaffen. Der eigentliche kreative Prozess, der gerade im Schreiben Ausdauer und Selbstdisziplin erfordert, kann niemals im Rausch, in der süchtigen Episode, sondern nur alternierend zu ihr erfolgen. Daher sind Sucht und Kreativität wie zwei Seiten einer Medaille oder wie die zwei Schalen einer Waage: sie schöpfen bzw. entstehen aus den gleichen inneren Prozessen und Kräften, schließen einander jedoch zum gleichen Zeitpunkt gegenseitig aus. Sicherlich hat noch niemals ein Autor im Zustand der Betrunkenheit ein lesbares Werk geschrieben, zumal der Rausch eben kein Dauerzustand sein kann. So berichtete Georg Sterling Upton Sinclair - letzterer ist neben Thomas Mann der einzige Anti-Alkoholiker unter den namhaften Schriftstellern: „Wenn du unter Alkoholeinfluss schreibst, glaubst du, die großartigste Sache der Welt geschrieben zu haben. Wenn du es aber am nächsten Tag liest, entdeckst du, dass es völlig unverständlich ist.“ (Lehmann 1989, S. 66).

Aber: Sucht und Literatur werden von den gleichen inneren Triebkräften gespeist, und dies sind eben quälende, leidvolle Erinnerungen, Gefühle und Bilder, deren Verständnis uns zu Erkenntnissen sowohl über Literatur und Kunst wie über die Sucht verhelfen kann. „Dass aus dem Leiden schöpferische Kraft kommt, wird niemand leugnen wollen. Kreative Kraft kommt aus allen großen menschlichen Gemütsbewegungen, aus Freude und Begeisterung ebenso wie aus Verzweiflung und Not. Eine zerstörerische und fortschreitende Krankheit aber wie die Sucht kann einem künstlerischen Werk schon deshalb nicht auf Dauer förderlich sein, weil sie seinen Urheber zerrüttet oder tötet.“ (Lehmann 1989, S. 66f) - wobei letzteres dennoch oft genug der Fall ist, wie man hier ergänzend anmerken muss.


Die unbewussten Triebkräfte der Destruktivität


Was sind nun die gemeinsamen Triebkräfte von Kreativität und Sucht? Am Beispiel Hans Falladas wurde erwähnt, dass sein Vater ein autoritärer, zwanghafter und indolenter Mensch gewesen ist, der seinem Sohn zeitlebens Wärme und Anerkennung versagte. Seine Mutter bleibt auch in den Schilderungen seiner Biographen eher blass, wie ich es von Alkoholikern oft kenne, ebenso wie Falladas Spaltung seines Frauenbildes in eine zumindest anfangs idealisierte, reine und gute Mutter, „das Lämmchen weiß wie Schnee“ und die Hure für Alkoholiker typisch ist. Tatsächlich hat die Mutter, vielleicht auch aufgrund eigener Brüchigkeit und Bedürftigkeit, ihrem Sohn nicht die Wärme und Sicherheit vermitteln können, derer er bedurft hätte, so dass sich Fallada seiner Existenz, seines Lebensgefühls von Kindheit an niemals sicher war, wobei sich der unterdrückte Hass auf die Mutter letztendlich in seinen mörderischen Impulsen gegen „das Lämmchen“ Bahn brach. Nach analytischer Terminologie fehlten ihm gute innere Objekte. Das mag an dieser Stelle vielleicht etwas vage und spekulativ klingen, da wir über Falladas frühe Kindheit so gut wie nichts wissen.

Dies gilt allerdings für die meisten der mit einer Alkoholabhängigkeit kämpfenden Autoren, und viele Biographen wie z.B. der Psychoanalyse-averse Goodwin in „Alkohol und Autor“ (2000) verweigern sich buchstäblich einer Auseinandersetzung mit der frühen Kindheit bzw. Mutterbeziehung der betroffenen Autoren. An detaillierten psychoanalytischen Studien über Schriftsteller mangelt es; die bekannteste ist Eisslers (1986) Werk über Goethe, auf den wir uns hier aber nicht stützen können, da Goethe zwar unbestritten exzessiv trank, aber kein Alkoholiker war, keine autodestruktiven Züge zeigte, und daher auch ein gesegnetes Alter erreichen konnte. Authentisches und glaubwürdiges autobiographisches Material stammt allenfalls von weniger bekannten zeitgenössischen Autoren.

Biographien wie bei Hans Fallada und anderen Schriftstellern lassen sich auch immer wieder bei Alkoholikern finden, denen der Weg, ihre Problematik kreativ auszudrücken, nicht offen stand. Es gibt unter den Süchtigen eine große, wenn auch vielleicht nicht die größte, Gruppe von Menschen, die von frühester Kindheit an eine Kette von Unfällen, schweren Erkrankungen, traumatischen Erlebnissen, Missbrauch und Objektverlusten, später Suizidversuchen und schwersten Suchtmittelexzessen neben wiederholten Lebenskrisen aufweisen (Rost 2003, 2009). Oft kam es hier schon sehr früh zum Verlust von Mutter oder Vater, entweder ganz real oder durch eine mangelnde Präsenz des primären Bezugsobjektes infolge einer psychischen Erkrankung eines oder beider Elternteile, insbesondere Depressionen, Psychosen, Perversionen oder ebenfalls Sucht. In der Folge kommt es nicht zur Verinnerlichung stabiler und gesunder, nach Melanie Klein „guter“ Selbst- und Objektrepräsentanzen. Für solche Menschen ist dann das Leben, ihr Dasein nicht selbstverständlich. Sie stellen es immer wieder in Frage, spielen oft eine Art von „Russischem Roulette“ und bringen sich damit in Todesnähe, wozu der Abusus von Suchtstoffen ein sehr geeignetes Mittel darstellt. Charakteristisch für diese Süchtigen ist, dass der Alkohol hier nicht mit Genuss getrunken wird, sondern oft mit Ekel und Abscheu, unter Wut und Hass bzw. Selbsthass hineingeschüttet und bis zur Besinnungslosigkeit getrunken wird in dem Ziel, sich selbst die eigene Nichtigkeit und Wertlosigkeit zu beweisen und sich zu zerstören. Dies gilt auch für manche Schriftsteller, wie dies z.B. Lowry für sich beschrieben hat. Noch geeigneter für einen solchen Mechanismus ist das Fixen von Heroin. Die Abstinenz von der Droge allein ist hier oft nicht hinreichend für eine bessere Lebensbewältigung bzw. die pure Akzeptanz der eigenen Existenzberechtigung.

Hier waren in der frühen Entwicklung die guten Objekte zu schwach, so dass es zu einer übermäßigen Verinnerlichung maligner Selbst- und Objektrepräsentanzen gekommen ist. In der Sprache der Psychoanalytikerin Melanie Klein (1972) wurde nicht die gute, sondern die böse Brust verschluckt. So steht bei diesen Süchtigen auch das Suchtmittel nicht für die Muttermilch, die sättigt, wärmt und beruhigt, sondern repräsentiert eine vergiftete Milch, die auf oral-aggressivem Wege vernichtet werden soll. Schon Ernst Simmel schrieb über das Trinken der Alkoholiker: „Ich hasse den Alkohol. Ich nutze jede Gelegenheit, um ihn loszuwerden - indem ich ihn verschlinge .(1948)“

Das süchtige Trinken ist also ein oral-kannibalistischer Angriff auf die böse Brust ist gleich Alkohol, der natürlich nicht dahin führen kann, daß damit das böse Objekt aus der Welt geschafft wird. Ganz im Gegenteil wird es dadurch immer wieder aufs Neue introjiziert, und der Alkoholiker trägt das böse Objekt damit in seinem Innern. Dies hält den süchtigen Zirkel am Laufen, da erneut versucht wird, das verschluckte böse Objekt mittels Vergiftung zu zerstören: durch erneutes Trinken (Rost 2009, Kap. V.).

Hierzu muss zweierlei ergänzt werden: zum einen handelt es sich selbstverständlich um einen unbewussten Prozess, den der Süchtige durch ein weiteres Instrument, das ich als die Mystifizierung der Droge bezeichnet habe, zusätzlich verschleiert. Denn vordergründig deklariert der Alkoholiker seinen Stoff zur „guten Milch“, handhabt ihn jedoch in einer ausschließlich autodestruktiven Form. So idealisierte auch Fallada den Alkohol als eine „Königin“, seine „Reine d“alcool“, die ihn jedoch „hinauf zu sich ziehen wird, und wir werden entschweben, in Rausch und Vergessen, aus denen es nie ein Erwachen gibt“ (Fallada, der Trinker 1959). In seiner zweiten Lebenshälfte gelang Fallada ein genussvolles Trinken sicherlich nicht mehr.

Damit geht einher, dass Alkoholiker meistens - zumindest in nüchternem Zustand - ihre Mütter bzw. ihre Frauen idealisieren: Das zarte Lämmchen weiß wie Schnee von Fallada, die Schneeflocke von Ernst Herhaus (1978) etc. Tatsächlich ist die partnerschaftliche Beziehung oft maligne und destruktiv, durch sadomasochistische Elemente geprägt. Dies kommt dann in dem im Alkoholrausch mitunter durchbrechenden Hass zutage, der im Zustand der Nüchternheit als ichfremd deklariert und allein dem Wirken des Alkohols zugeschrieben wird. Und auch die Beziehung zur Mutter war eben eine maligne, zumindest aber ungenügende oder ambivalente. Dies kann sich der Alkoholiker ebenfalls nicht bewusst zugestehen, sondern die Mutter wird genauso wie der Alkohol mystifiziert. Im Gegensatz zu Psychotikern oder ausgeprägten Borderline-Strukturen spalten Alkoholiker in der Weise, dass sie aufgrund ihrer übermächtigen, zerstörerischen und malignen inneren Objekte das gute Objekt im Außen verankern, um es damit vor der Zerstörung durch das böse Objekt zu schützen. Das heißt, während die malignen Selbst- und Objektrepräsentanzen verschluckt und im Körperinnern angesiedelt werden, werden die guten Objektrepräsentanzen nach Außen, meist auf die Mutter projiziert, die mit allen guten, idealen Eigenschaften ausgestattet wird, um diese zu bewahren und vor Zerstörung zu schützen. (Rost 2009, S. 88ff) In dieser Hinsicht haben es Borderline-Persönlichkeiten leichter, die ihre bösen, verfolgenden Teilobjekte bei anderen Menschen lokalisieren können.

Das Charakteristische für die Sucht nun ist die Instabilität dieser Mechanismen, eine Spaltung, in der das gute Objekt im Außen und das böse im Innern ist, verknüpft mit der Mystifizierung dieses Mechanismus, wobei die malignen, zerstörerischen Objekte (Mutter, Alkohol, Drogen) als die guten deklariert werden. Da es sich mit dem verschluckten bösen Objekt auf Dauer nicht leben lässt, kommt es immer wieder zu Projektionen und Reintrojektionen maligner Selbst- und Objektrepräsentanzen. Hier bietet sich das Suchtmittel, insbesondere der Alkohol, als das Objekt der Wahl zur Austragung des verinnerlichten unbewussten Prozesses an. Er wird zu einem mehrfach überdeterminierten, hochambivalent mit idealen wie zerstörerischen projektiven Phantasien besetztes, zentrales Objekt. Der zerstörerische Charakter des Suchtobjektes entfaltet sich immer erst im Moment des Passierens der Körpergrenze, wenn sich das Suchtmittel mit dem malignen inneren Objekt kontaminiert. In dieser Form bzw. diesem Stadium der Sucht kann daher nur noch exzessiv getrunken werden, mit dem Ziel sich selbst, identifiziert mit dem malignen inneren Objekt, zu vergiften, zu zerstören. Der als gute Brust mystifizierte Alkohol wird als böse, zerstörerische Brust verwendet, allein schon durch das Übermaß und die Form, in der er konsumiert wird (Rost 2009)..

Da sich die verinnerlichte böse Brust auf diesem Wege nicht beseitigen lässt, sondern diese dadurch nur immer mächtiger wird, kommt es zu einer immer rascheren und heftigeren Abfolge der süchtig-destruktiven Exzesse, die oft nur durch andere Arten von Katastrophen und Selbstzerstörung ersetzt werden können. Die süchtige Psychodynamik schaukelt sich also selbst immer heftiger auf und ist daher nur schwer zu stoppen.

Nur kurz kann hier erwähnt werden, dass dieser Zirkel therapeutisch am ehesten dadurch durchbrochen werden kann, dass die Mystifikation aufgelöst und eine neue Form der Spaltung etabliert wird. So wird besonders in der Selbsthilfe der Anonymen Alkoholiker, die auch stark die Psychotherapie der Sucht beeinflusst hat, der Alkohol zu einem für den Süchtigen bedrohlichen, tödlichen Gift deklariert, dem der Abhängige machtlos gegenübersteht, und dagegen eine andere, gute, göttliche Macht aufgebaut, repräsentiert durch die Abstinentengruppe, mit der sich der Alkoholiker identifizieren kann. Suchttherapie muss daher oft, so paradox das aus analytischer Sicht auch klingen mag, über die Etablierung einer klaren Gut-Böse-Spaltung führen, wobei das böse Objekt dann im Außen, im Alkohol lokalisiert wird, um dem Süchtigen eine Identifikation mit dem guten Objekt - Therapeut oder Gruppe - zu ermöglichen. Diesen Prozess habe ich an anderer Stelle (Rost 2009, S. 183ff) ausführlicher dargestellt.


Zur Psychodynamik des Todes in der Trunksucht (Manfred Möhl)


In dieser qualvollen Ambivalenz, die den Süchtigen beherrscht, dem Kampf mit malignen verinnerlichten Objekten, unbewältigten Erfahrungen und Traumata, liegt meiner Meinung nach auch eine entscheidende Triebkraft kreativen Schaffens, wie besonders dem Schreiben.

Damit hätten wir immerhin eine Verbindung zwischen Sucht und Kreativität, die den Drang, leidvolle Prozesse und Erfahrungen kreativ und auf diese Weise konstruktiv auszudrücken und damit einer Lösung zuzuführen, verständlicher macht. Ich gebe jedoch zu, dass diese Verbindung zur Erklärung dürftig erscheinen mag, und möchte daher abschließend noch eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch Manfred Möhl (1993) vorstellen, die die Affinität zwischen Sucht und kreativen Leistungen vielleicht noch deutlicher machen kann. In seinem ungeheuer komplexen Werk „Zur Psychodynamik des Todes in der Trunksucht. Versuch einer tiefenpsychologisch - anthropologischen Deutung“ von 1993 stellt Möhl eine Verknüpfung zwischen Sucht als einer Form eines individuellen Initiationsritus und der Suche nach Selbstheilung als einer Auseinandersetzung mit und Suche nach der eigenen Sterblichkeit her.

Auch Möhl geht davon aus, dass Sucht der Ausdruck eines tief sitzenden Leidens ist, in dem „ein unverkennbarer Zug zur Selbstbestrafung und Selbstzerstörung feststellbar ist“. (1993, S. 63). Hier sieht er nicht etwa einen angeborenen Todestrieb am Werke, sondern die wiederholte Erfahrung von Objektverlusten, extremen Verlassenheitsängsten sowie anderen Traumata, die er unter den Begriff der „erlebten Biotraumata“ subsumiert. Diese „frühen tödlichen Enttäuschungen“ stellen für Möhl „Kostproben des Sterbens“ dar, ähnlich, wie wir dies anhand der belletristischen Literatur bereits festgehalten hatten. In - oft vergeblichen - Bewältigungsversuchen werden diese Erfahrungen im Wiederholungszwang immer wieder aufgesucht, die frühe Todeserfahrung in immer neuer Form reinszeniert mit dem Ziel, sie zu bewältigen. Einen solchen Bewältigungsversuch - so könnte man Möhl hier ergänzen - stellt auch die kreative Bearbeitung und das nach Außen bringen der erlebten Biotraumata, sei es durch Literatur, Dichtung, Film oder Malerei dar.

Zunächst einmal bietet sich für diese Bewältigungsversuche jedoch der Alkohol an, der die Illusion einer vollkommenen Korrespondenz zwischen Subjekt und Objekt vermittelt, eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit damit aber zunächst verhindert. Diesen Versuch, mit der Mutter, später ersetzt durch den Alkohol, eine symbiotische Beziehung einzugehen, in der Schmerz und Leid gebannt werden sollen, bezeichnet Möhl als einen zum Scheitern verurteilten „Ichheilungsversuch“.

Die Sucht kann jedoch auch einen „Selbstheilungsversuch“ darstellen. Der Teufelskreis des Alkoholmissbrauchs führt über kurz oder lang zu einem „Teufelspakt“. Mit fortschreitender Sucht wird der extreme Rausch als ein „Todesäquivalent“ erlebt. Im Suchtzirkel und im Rausch versucht sich der Abhängige seine Unverletzlichkeit, seine Unsterblichkeit zu beweisen, in dem er sich immer weiter in die Todesnähe manövriert, bis „der Drogengebrauch die Suche nach der und gleichzeitig Abwehr gegen die eigene Sterblichkeit darstellt“ (S. 249). Die anfängliche Verleugnung der tödlichen Aspekte des Suchtmittels kann dessen allmähliche Metamorphose in ein verfolgendes und zerstörendes Objekt letztlich nicht verhindern.

Der „Suchtweg“ wird zum „Todesweg“, was zugleich die Chance eröffnet, ihn zum „Reifungsweg“ werden zu lassen, der den Kern zur Genesung, zur Selbstheilung in sich trägt. Der „Tiefpunkt“ in der „Kapitulation“, zugleich der Zeitpunkt der größten Todesnähe, birgt den möglichen Wendepunkt der Entwicklung, in dem das „falsche Selbst“ vernichtet wird. Hier zieht Möhl Parallelen zu den Initiationsriten verschiedener Kulturen und deren Märchen und Mythen. Wenn also der Süchtige den Sturz in die Autodestruktivität überlebt, biete sich ihm die Chance zur „Wiedergeburt“ oder „Initiation“. Das Erreichen der größtmöglichen Todesnähe, zugleich implizierend die größtmögliche Annäherung an die früher erlebten Traumata, erlaubt die Aufgabe der „Ichheilungsversuche“ und des „falschen Selbst“. Erst die reale Erfahrung unmittelbarer Todesnähe ermöglicht die Überwindung der existentiellen Angst und Verlassenheitsgefühle als Triebkräfte der Sucht.

Die Todesnähe wird im Suchtmittelmissbrauch gesucht, um den Tod zu überwinden, um sich vormachen zu können, ihn zu beherrschen, damit er einen nicht ereilt. Zugleich handelt es sich auch um einen Wiederholungszwang im klassischen psychoanalytischen Sinne. Das Trauma wird immer wieder aufs Neue wiederholt und durchlebt, um es beherrschbar zu machen, es zu überwinden. Sinn dieses Mechanismus ist es also weniger, den Tod wirklich zu finden, viel­mehr ihn zu überwinden, den eigenen Tod zu erfahren und zugleich zu überleben. Das Dilem­ma dabei ist allerdings, dass der Tod letztendlich nicht beherrschbar, sondern in letzter Konsequenz unausweichliches Schicksal ist. Daher ist die Sucht nur in den seltensten ein Weg zur Bewältigung der erlebten Traumata, wie dies Möhl in seinen Bezügen zur Anthropologie und den Initiationsriten der klassischen Kultur abgeleitet hat, und so bleibt der von ihm skizzierte „Reifungsweg“ ein in der Realität kaum erreichbares Ideal.

Hier haben wir jedoch endlich den Schlüssel dafür, warum es gerade süchtigen Persönlichkeiten immer wieder gelingt, uns in Literatur, Malerei, Musik, Theater oder Film so großartige und überdauernde Werke zu hinterlassen. Der innere Zwang, sich mit den erlebten Erfahrungen, den „Biotraumata“ nach Möhl auseinanderzusetzen, führt letztlich zu der Notwendigkeit, sich mit den zentralen Fragen des menschlichen Daseins, mit Leben und Tod zu befassen. Somit gibt es dann für den Süchtigen mit den entsprechenden Fähigkeiten auch die Möglichkeit, den Initiationsritus oder Reifungsweg statt durch das Aufsuchen der unmittelbaren Todesnähe mittels Sucht kreativ darzustellen und zu bewältigen, Gefühle, Phantasien, innere Bilder und Erinnerungen schreibend, malend oder durch Musik auszudrücken. „Was also ist das Trinken anderes“, stellt der Schriftsteller Kostis Papajorgis (2001) fest, „als die tägliche Dosis Wahnsinn, die vor dem Irrenhaus bewahrt, weil allnächtlich ein wenig Tod das Wissen von dem Schiffbruch dereinst erträglich werden lässt“. Was, so können wir hier ergänzen, kann wiederum vor dem Zwang, den täglichen Wahnsinn zu erleben, die Todesnähe immer wieder aufsuchen zu müssen, besser bewahren, als den Gedanken daran und den Ängsten davor einen kreativen Ausdruck zu verleihen, und sich damit mit anderen Menschen wenigstens indirekt zu verbinden, die Einsamkeit des inneren Kampfes zugleich ein wenig aufzuheben? Denn der von Möhl idealtypisch beschriebene Initiationsweg führt nur in den wenigsten Fällen zur Reife, sondern nur zu oft zum Tode des alkoholabhängigen Initianden. Kreativität ist dann die nach meinem Eindruck konstruktivere Form, diesen Weg zu gehen. Leider führt auch dieser nur in den wenigsten Fällen zu einer wirklichen Heilung, sondern wie ich weiter oben bereits dargestellt habe, enden letztlich viele Schriftsteller in einem frühen Tod. Immerhin schafft die kreative Auseinandersetzung die Möglichkeit, wenigstens einen Teil des Leidens aus dem Wege zu räumen, das Leben durch diese Bewältigungsmaßnahmen zu verlängern, und uns, die wir vielleicht weniger leidend, aber auch weniger kreativ sind, großartige Werke zu hinterlassen, die auch unsere eigene Auseinandersetzung mit den Fragen des menschlichen Daseins bereichern und voranbringen können.

Hans Fallada brachten die Abstinenzphasen mit den literarischen Bewältigungsversuchen seiner erlebten „Biotraumata“ sicherlich eine Verlängerung seines Lebens um 20 bis 30 Jahre. Gegen Ende allerdings wurde die Destruktivität und Todessehnsucht im Wiederholungszwang für ihn - wie leider auch für so viele andere Alkoholiker, Schriftsteller und Künstler - unerträglich und unbewältigbar. Wenige Monate vor seinem Tod schreibt er im „Alpdruck“:

„Doll nannte dies rasche Ausgelöschtwerden durch Medikamente seinen kleinen Tod. Er liebte ihn. In der letzten Zeit hatte er so viel an seinen Bruder, den Großen Tod gedacht, er hatte mit ihm gelebt, gewissermaßen Haut an Haut; er hatte sich daran gewöhnt ihn als die einzige, ihm noch verbliebene Hoffnung anzusehen, die ihn gewiß nicht enttäuschen würde.“

(zit. nach Manthey 1963, S. 160).

Wie ich weiter oben schon erwähnte, hinterließ die kreative Seite Falladas uns nicht nur lesenswerte Werke, sondern rettete ihn oft genug vor einem frühen Tod. Auch wenn Fallada selbst sich aus seiner Sucht letztlich nicht befreien konnte, sehe ich im kreativen Schaffen einen der wichtigsten Lösungs- und Rettungswege aus der Sucht, nämlich einen Weg, inneres Leiden nach Außen zu bringen und von dem Zwang zur Selbstzerstörung, der mit der Sucht untrennbar verbunden ist, zu befreien. Ich glaube, nicht wenige Kunstschaffende haben mittels ihrer Kreativität ihr Leben gerettet. Natürlich ist nicht jeder Alkoholiker ein verkappter Künstler, aber gerade Psychotherapeuten sollten die Bedeutung dieses Weges nicht unterschätzen und, wo immer es geht, Hilfestellung dabei geben, ihn zu beschreiten.


Literatur:

 

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