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Wolf-Detlef Rost

Von der Liebe zur Droge zur zwischenmenschlichen Beziehung – Bindung und Beziehung bei Süchtigen (aus psychoanalytischer Sicht)

Vortrag auf der Tagung „Sucht und Bindung“, Wien 16. 5. 2018

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Es sind nun bald 40 Jahre, die ich mich therapeutisch wie theoretisch mit Suchterkrankungen befasse. In der Behandlung bin ich aufgrund dieser Erfahrungen sicherlich gelassener geworden. Was jedoch die Einschätzung von Ursachen und Genese der Abhängigkeit und die Persönlichkeit von Süchtigen betrifft, bin ich ein Stück demütiger geworden, erscheint mir selber mein 1987 in der „Psychoanalyse des Alkoholismus“ publiziertes theoretisches Modell heute etwas naiv. Die Vielzahl der Erfahrungen mit süchtigen Patienten – sie stellen die Mehrheit meiner Praxisklientel dar – macht es mir eher schwerer als leichter, sie in irgendein Schema zu pressen, sie zu kategorisieren. So habe ich denn die Einladung zu diesem Vortrag genutzt, mein von mir selbst in Vorträgen wie Publikationen vielfach wiederholtes Modell endlich um eine neue Perspektive zu erweitern und es auf diesem Hintergrund zu überarbeiten, nämlich mittels der Bindungstheorie.

 

Ich möchte an dieser Stelle nicht die auf John Bowlby zurückgehende Bindungstheorie referieren und sie in ihren Grundzügen als bekannt voraussetzen. Die Kritik Bowlbys an der klassischen, der orthodoxen Psychoanalyse, war vor allem die, dass sie die Bedeutung der Phantasiewelt, der inneren Prozesse des Säuglings über- und seine realen Beziehungserfahrungen im ersten Lebensjahr unterschätzt, den Säugling eher als eine sich aus sich selbst entwickelnde Monade denn als ein Beziehungswesen sieht. Hier wurde ein unglückseliger Gegensatz konstruiert, an dem die orthodoxen Psychoanalytiker jener Zeit – um 1950 – nicht unschuldig waren, wobei es auch damals schon weiterdenkende Analytiker wie insbesondere Ronald Fairbairn gab, der 1953 klarstellte, dass die Libido des Säuglings primär objektsuchend ist und nicht der Triebabfuhr dient. Der Mensch ist ein durch und durch soziales Wesen; er kann nicht alleine existieren; schon Daniel Defoes Robinson war eine Fiktion. Fairbairn ist neben Melanie Klein der Begründer jener psychoanalytischen Schule geworden, die den etwas unschönen Namen „Objektpsychologie“ oder „Objektbeziehungstheorie“ trägt und der ich in meinem Modell der Psychogenese des Alkoholismus einen besonderen Stellenwert eingeräumt habe. Warum also nicht gleich „Beziehungspsychologie“ oder „psychoanalytische Theorie der Beziehung“? Nur Dogmatiker können heute einen Gegensatz zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie behaupten.

 

Um auf meine einleitenden Worte zurückzukommen: ich weiß nicht, was zur Entwicklung einer Sucht führt und was ein „typischer“ Alkoholiker ist, aber: Wenn es denn überhaupt eine Gemeinsamkeit gibt, die für alle oder wenigstens die meisten Süchtigen zutrifft, dann ist es wohl diese: Grundlage bzw. eine Triebkraft der Sucht ist eigentlich (fast) immer eine Beziehungsstörung! So verschieden die hunderte von Alkoholikern waren, die meine Praxis durchlaufen haben, eines war ihnen gemein: sie wiesen gestörte zwischenmenschliche Beziehungen auf.

Ich möchte daher mein Modell der psychoanalytischen Unterscheidung verschiedener Schweregrade süchtiger Grundstörung hier mittels der Bindungstheorie erweitern. Das Spezifikum der Sucht ist immer, dass zum Suchtmittel eine ganz besondere Form der Beziehung besteht, eine überwertige, oft fast ausschließliche, was die zwischenmenschlichen Beziehungen und auch die Therapie überlagert und bestimmt. Die Droge ist das mächtigere Liebesobjekt, dem gegenüber alle anderen Partner verlieren. Dieses Phänomen ist überall dort anzutreffen, wo die Sucht das Leitsymptom ist. Es gibt einen exzessiven Suchtmittelmissbrauch oft auch bei Borderline-Erkrankungen oder anderen Persönlichkeitsstörungen. Hier kann der Abusus durchaus gefährlich werden, ist aber nur ein Symptom unter anderen und oft passagerer Natur, kann also rasch durch andere Symptome ersetzt werden. Eine wirkliche Sucht liegt vor, wo sich alles um die Droge dreht und jede andere Beziehung unwichtig geworden ist. Hiervon weiß jeder Angehörige ein Lied zu singen. Partner, Kinder, die ganze Familie sind unbedeutend geworden, werden oft ausgenutzt oder sogar ausgebeutet zwecks Beschaffung des Suchtmittels. Und dies ist auch der Grund, warum keine andere Erkrankung psychischer Genese in der Familie und in der Entwicklung der Kinder so viel Unheil anrichtet wie eine Sucht: die Beziehungen treten zurück, sie haben keine wirkliche Bedeutung mehr. Kinder werden konfrontiert nicht nur mit einem materiellen und sozialen familiären Desaster, sondern damit, zumindest zeitweilig die Liebe von Mutter oder Vater nicht mehr spüren zu können, hinter die übermächtige Droge zurücktreten zu müssen.

Dies ist übrigens auch einer der Hauptgründe für die Schwierigkeit, die viele Psychotherapeuten und andere Professionelle mit Süchtigen haben: sie spüren in der Gegenübertragung, dass sie nicht so wichtig sind wie die Droge, dass sie selbst, die labile therapeutische Beziehung, im nächsten Rückfall im wahrsten Sinne des Wortes weggespült werden können.

Das zentrale Liebesobjekt des Süchtigen ist die Droge. Dies habe ich immer wieder zu vermitteln versucht und möchte es hier auf der Grundlage der Bindungstheorie reformulieren. Es gab ja bereits 2011 in München eine Tagung zum Thema „Bindung und Sucht“. Hier stützte man sich weitgehend auf das klassische Modell der Bindungstheorie mit den drei Typen der „sicheren Bindung“, der „unsicher-vermeidenden Bindung“ und der „unsicher-ambivalenten Bindung“, später ergänzt durch die „desorientierte Bindung“. Inzwischen gibt es eine Vielzahl differenzierterer Bindungstypologien, und zur Kategorisierung von Bindungsmustern im Erwachsenenalter wurde eine eigene Klassifikation entwickelt, die allerdings nicht so verbreitet und die für die Beschreibung süchtiger Entwicklung und Beziehungsmuster weniger hilfreich ist wie die ursprüngliche, auf Kleinkinder bezogene Typologie.

 

Es ist übrigens interessant, dass ein Klassiker der Suchttheorie, Howard T. Blane, bereits 1968 eine ganz ähnliche Differenzierung für Alkoholiker entwarf; mir ist nicht bekannt, ob Blane sich seinerzeit mit der Bindungstheorie Bowlbys auseinandergesetzt hat. Jedenfalls unterschied Blane drei Typen: den „offen abhängigen“ Alkoholiker, eine passive Persönlichkeit, die sich auch im Erwachsenenalter versorgen lassen will, den „gegenabhängigen Typ“, der seine Abhängigkeitswünsche leugnet und sich in eine Pseudo-Autonomie flüchtet, und den „fluktuierenden, ambivalenten Typ“, der keine stabile Lösung seines Abhängigkeitsproblems gefunden hat und zwischen den Polen hin und her pendelt.

 

Nun ist Blane zwar weitgehend in Vergessenheit geraten, aber im Zusammenhang der Diskussion von Bindung und Sucht lässt sich hier eine interessante Frage aufwerfen: die „sichere Bindung“ gilt gemeinhin als „der Königsweg“ der frühkindlichen Entwicklung und als Voraussetzung für psychische Gesundheit und die Kompetenz zur Lebensbewältigung. Könnte es aber sein, dass es nicht wenige Individuen gibt, die es nicht wagen, aus ihrer „sicheren Bindung“ herauszutreten, sich dem Leben zu stellen, die mütterliche Geborgenheit nicht aufgeben wollen? Wir erleben zunehmend schwerst süchtige, lebensunfähige Patienten, die große Kinder bleiben oder bestenfalls in der Adoleszenz stecken geblieben sind. Sie füllen die Doppeldiagnosestationen der Psychiatrien, wo sie ein Ersatz-Zuhause gefunden haben und sich versorgen lassen. Die sichere Bindung ist zweifellos eine Voraussetzung einer gesunden Entwicklung; ich bin jedoch nicht tief genug in die Bindungstheorie eingestiegen um beantworten zu können, inwieweit sie erklären kann, dass manche in diesem Stadium stecken bleiben; als ein Faktor wird oft genannt, dass echte Zuwendung, körperlicher oder verbaler Trost, mit Essen, insbesondere Süßigkeiten, durch unmittelbare orale Befriedigung ersetzt worden sind. Hier sind sicherlich psychoanalytische Modelle hilfreich, die erklären, dass eine Autonomieentwicklung unterbunden, das Kind in Abhängigkeit gehalten, von der Mutter als Selbstobjekt benutzt wurde, so dass eine adäquate Ablösung nicht erfolgte, und, wie ich in meinen früheren Arbeiten beschrieben habe, sich das Ich, die eigene Persönlichkeit mit ihren Affekten, nicht hinreichend differenzierte und nicht die notwendigen Kompetenzen zur Lebens- und Alltagsbewältigung aufbauen konnte. Im Erwachsenenalter werden zwar durchaus Beziehungen gesucht; diese können jedoch niemals so allumsorgend und fürsorglich sein wie die verlorene und stets wieder gesuchte frühe Bindung zur Mutter, so dass der Alkohol, der Stoff, die besseren Liebesobjekte sind, weil allseits sättigend und befriedigend.

Resümieren wir also: die sichere Bindung scheint hier zwar einst gelungen, die vollständige Ablösung aus ihr aber nicht geglückt zu sein. Kein Mensch kann die primäre mütterliche Liebe und Zuwendung ersetzen. Scheinbar aber das Suchtmittel. Es wird dadurch zum Ersatz für das menschliche Liebesobjekt, ist diesem stets überlegen.

 

Konsens ist, dass sich Sucht häufig auf dem Hintergrund einer unsicheren, konkreter meist der „unsicher-vermeidenden“ Bindung entwickelt. Der erwachsene Süchtige, der durch dieses Strukturniveau bestimmt ist, sucht die Abhängigkeit von Personen zu meiden und flüchtet sich in die Beziehung zur Flasche, die er – zumindest bis sein süchtiger Zirkel entgleist – nach seinem Gutdünken händeln kann. Dies entspricht dem „gegenabhängigen Typus“ nach Blane, der als Erwachsener wie einst das kleine Kind zu vermitteln sucht, dass er keinen Menschen braucht, dass er sein Leben ganz allein und aus eigener Kraft bewältigen kann. Aufgrund seiner Defizite ist sein Selbst jedoch nicht stark, sind seine Ichfähigkeiten nicht hinreichend genug entwickelt, um wirklich autonom werden und das Leben bewältigen zu können. Er braucht also eine Unterstützung von außen, und da, wie uns die Bindungstheorie aufzeigt, menschliche Beziehungen zu unzuverlässig, zu gefährlich erscheinen, tritt an diese Stelle das Suchtmittel, wobei der Betroffene nach Blane die Abhängigkeit von diesem natürlich abstreitet, denn er möchte ja stark und autonom sein. Tatsächlich ist die Abhängigkeit von der Droge hier noch mächtiger als beim zuvor beschriebenen Typus mit der sicheren Bindung; suchte dieser wenigstens noch nach einem Ersatz für die Mutter, ist es für den gegenabhängigen Typus klar, dass er die Mitmenschen meiden muß und nur der Droge vertrauen darf.

 

Für beide nun gilt, dass die Entgiftung des Schutzes einer therapeutischen Einrichtung bedarf, denn die Droge ist zu stark, zu wichtig, als dass dies im alltäglichen Leben geschehen könnte. Dies heißt jedoch noch lange nicht, dass an die Stelle der Droge nun ohne weiteres zwischenmenschliche Beziehungen treten könnten, denn die Droge, die Erinnerung an sie, bleibt im Inneren viel zu mächtig.

Zunächst einmal hinterlässt der mehr oder minder erzwungene Verzicht auf die Droge eine Lücke. Diese kann durch ein anderes Suchtmittel oder durch ein psychisches oder auch körperliches Symptom ersetzt werden. In der Anfangszeit der Abstinenz kommt es in vielen Fällen statt zu einer Verbesserung zu einem verstärkten Selbstzerfall, neuen Symptomen und einem intensiver erlebten, bewußteren Leiden. Nicht wenige Patienten haben bei mir geäußert: „So lange ich noch getrunken habe, hatte ich ja gar keine Ahnung, wie schlecht es mir wirklich geht“. Ersatzbildungen werden gesucht; hier helfen Abstinentengruppen. Das Sich-Einlassen auf eine zwischenmenschliche Bindung liegt aber meist noch in weiter Ferne. In dieser Gruppe wird der Suchtstoff ein Beziehungsersatz, zum Selbstheilungsmittel, das zumindest anfänglich seine Funktion zur Stabilisierung und Alltagsbewältigung hatte.

 

Mir am wichtigsten ist jedoch der so genannte C-Typ mit der „unsicher-ambivalenten Bindung“. Auch dieser findet sich übrigens in Blanes Typologie als fluktuierender, ambivalenter Charakter, der für seinen Abhängigkeits-Autonomiekonflikt keine dauerhafte Lösung gefunden hat. Für mich ist dieser Typus besonders interessant, weil er sich mit dem autodestruktiven Charakter überschneidet, den ich zuvor in der kleinianischen Terminologie zu beschreiben versucht habe. Die Aggression und Wut, welche die Bindungstheorie für das Kind beschreibt, und die etwa beim Borderline-Charakter oder der dissozialen Persönlichkeit nach Außen gerichtet ist, wurde hier internalisiert, wird am eigenen Körper ausgetragen. Die Ambivalenz jedoch bleibt erhalten, und dies macht die Auseinandersetzung mit dem Ersatzobjekt Suchtmittel so besonders prekär. Der Suchtstoff ist hier ein Mittel zur Selbstzerstörung, hat eine ganz andere und verhängnisvollere Funktion als bei den zuvor beschriebenen Patienten. Hier handelt es sich oft um Grenzgänger zwischen Leben und Tod, die ihr Leben nicht annehmen können, geschweige denn es genießen dürfen.

 

Ich habe wiederholt beschreiben, dass es sich dabei um seit früher Kindheit oft vielfältig traumatisierte Patienten handelt, die den Verlust von Vater oder Mutter bewältigen mussten, Vernachlässigung, familiäre Gewalt, psychischen oder sexuellen Missbrauch erlebten, Krankheit und insbesondere Sucht bei den Eltern, eigene schwere Erkrankungen und Unfälle seit dem Kindesalter. Später wieder Gewalterfahrungen, Beziehungsabbrüche, Suizidversuche und Suchtmittelexzesse. Hier ist das Urvertrauen basal gestört, und natürlich gibt es eine schwimmende Grenze zur vierten, in der Bindungstheorie beschriebenen Gruppe, dem D-Typ mit der desorganisierten Bindung. Ich habe die Dynamik dieser Patienten bisher anhand der kleinianischen Terminologie zu erklären versucht. Hier waren in der Entwicklung die positiven Erfahrungen und damit das gute äußere Objekt, die „gute Brust“, zu schwach und den negativen Erfahrungen, der „bösen Brust“, unterlegen, so dass im Prozeß von Introjektion und Reintrojektion letztlich die „böse Brust“ verinnerlicht und zum Kern des Selbst wurde. Mit diesem malignen Selbst lebt es sich nun aber schlecht, und das Kind versucht es loszuwerden, nach Außen zu projizieren, der erwachsene Süchtige es später zu vergiften, indem er Alkohol oder andere Drogen im Übermaß konsumiert. Der süchtige Konsum ist hier von Selbsthaß gekennzeichnet, da der Betroffene letztlich mit der bösen Brust identifiziert ist. Der Versuch, das verinnerlichte böse Objekt zu zerstören, kann nur zur Selbstzerstörung führen. Die Idee von guter und böser Brust, Introjektion und Projektion, dem ständigen Wechsel von Innen und Außen, ist in dieser Terminologie Nicht-Psychoanalytikern oft befremdlich, und man muß dazu sagen, dass Melanie Kleins Sprache auf dem Hintergrund der emigrierten jüdischen Psychoanalytikerin in der Zeit des Nationalsozialismus zu verstehen ist.

Es scheint, dass mich die Bindungstheorie hier vom Dilemma der fachlichen Vermittlung entbinden kann. Sowohl Typ C wie Typ D beschreiben die ambivalente Erfahrung des Kindes, das sich hilflos ausgeliefert fühlt, am stärksten natürlich im Typ D der desorganisierten Bindung. Aber bei allen schlimmen Erfahrungen sind Wut und Haß nur vorübergehend, denn das Kind braucht die Mutter natürlich, klammert sich verzweifelt an sie. Aus der äußeren Ambivalenz wird irgendwann eine innere; die Bindungstheorie geht wie die Psychoanalyse von einer Verinnerlichung der frühen Beziehungserfahrungen aus. Bowlby, der zurecht an dem Wort „Objekte“ Anstoß nahm, wählte den Begriff „Bindungsrepräsentation“, ein allerdings auch etwas sperriger Terminus. Da diese Repräsentationen alias Objekte nicht positiv waren, können später keine verlässlichen Beziehungen zu Personen aufgenommen werden, bzw. werden diese die ausgelebte Ambivalenz nicht über längere Zeit ertragen können.

 

Hier bietet sich also das Suchtmittel als der perfekte Ersatz an. An ihm, letztlich aber am eigenen Körper, wird die Ambivalenz von Nähewünschen und Verlassenheitsängsten, von Liebe und Haß ausgetragen. Da jedoch keine guten Beziehungsimagines verinnerlicht wurden und es damit kein stabiles gutes Selbst gibt, überwiegt der Selbsthaß. Dies bestimmt die Art des Konsums des Suchtstoffes, der unter Ekel, Wut und Haß hinunter geschüttet oder beim Junkie zum Russischen Roulette wird. Aber wie sich das Kind natürlich die Mutter erhalten musste, weil sie überlebensnotwendig war, und somit seinen Haß immer wieder hinunterschluckte, redet sich der unsicher-ambivalente Süchtige selber ein, sein Suchtstoff sei „gut“ und hilfreich. Nur die Art des Konsums zeigt, dass er ein böses Objekt ist, die verlassende Mutter repräsentiert. Ich habe dies als die „Mystifizierung“ des Suchtmittels bezeichnet, was sich aus der Bindungstheorie gut ableiten lässt und sich in der ständigen Ambivalenz der Beziehung zum Suchtstoff auswirkt. Diese Ambivalenz muß aufgehoben, paradoxerweise eine Spaltung etabliert werden, um aus dem permanenten, selbstdestruktiven Zirkel der Sucht herauszukommen. Die am eigenen Leib ausgetragene Ambivalenz ist zerstörerisch und in letzter Konsequenz tödlich.

 

Es geht daher darum, den Konflikt zu externalisieren und damit den Körper, die physische Gesundheit, zu schützen.

Die Entwicklung von Spaltungsprozessen zu propagieren erscheint aus psychotherapeutischer Sicht paradox, da diese ja als unreif gelten, und so entwickelten die erste wirkungsvolle Behandlung der Sucht die Anonymen Alkoholiker, die in ihren Konzepten einige intuitive psychodynamische Einsichten untergebracht haben:

Sie fordern nämlich den Alkoholiker dauf, die ambivalente Besetzung, die fortwährende Mystifizierung des Alkohols aufzugeben zugunsten seiner Verurteilung als einer Art „böser Brust“. Schritt 1 der AA:

„Wir haben zugegeben, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind und unser Leben nicht mehr allein meistern konnten“.

Der Alkohol wird als ein für den Süchtigen bedrohliches, tödliches Gift erkannt. In den folgenden „Schritten“ wird demgegenüber eine gute, positive Macht gesetzt:

„2. Wir gelangten zu der Überzeugung, daß nur eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.

3. Wir faßten den Entschluß, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes - wie wir ihn verstehen - anzuvertrauen.“ (nach Neuendorff und Schiel, 1982).

Diese gute, göttliche Kraft verkörpert sich in der Gruppe, mit der sich der Süchtige identifizieren soll. Wenn er sich auf die AA-Konzeption einlassen kann, hat er erstmals in seinem Leben eine klare Orientierung, wo „gut“ und „böse“ zu lokalisieren sind, kann sich aus der Mystifizierung der Droge befreien und sie als die „böse Brust“ fernhalten und bekämpfen.

Nur wenn der Alkoholiker sich aus dem süchtigen Zirkel befreit, hat er eine Chance zum Leben! Und dies erst kann ihm irgendwann ermöglichen, wirkliche Beziehungen einzugehen oder auch in eine Psychotherapie einzusteigen. Erst die Abstinenz von der Droge schafft die Basis für die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen, ermöglicht es, dass vorher destruktiv am eigenen Körper ausgetragene Konflikte mentalisiert und symbolisiert werden können. Und erst hier kann wieder eine zuvor über lange Jahre blockierte Entwicklung fortschreiten, was die Anonymen Alkoholiker ebenfalls erkannten und den ersten Tag der bewussten Abstinenz als neuen Geburtstag feiern, nämlich als jenen Tag, an dem die zuvor an die Droge gebundene Persönlichkeit anfangen kann, sich weiter zu entwickeln. Aber dies ist ein langer und ebenso wie beim Kind nicht einfach verkürzbarer Prozeß.

 

Die Bindungstheorie bietet ein Modell der kindlichen Entwicklung und möglicher Störungen. Wie die traditionelle Psychoanalyse legt sie besonderen Wert auf frühe Prozesse, verlagert aber das Augenmerk von der innerpsychischen Entwicklung und der Phantasiewelt des Kindes auf die realen Beziehungserfahrungen. Damit steht sie im Einklang mit den meisten Autoren der „Britischen Schule“ der Psychoanalyse wie Winnicott, Fairbairn und Guntrip. Ein therapeutisches Konzept ist die Bindungstheorie zunächst einmal nicht. Aus ihr geht jedoch klar hervor, dass Störungen, die in einer Beziehung entstanden sind, auch nur im Rahmen einer Beziehung bewältigt werden können, und, dies füge ich an dieser Stelle hinzu, können Symptome und Probleme, die sich aus der primären Beziehung im ersten Lebensjahr entwickelt haben, auch nur in einer lange dauernden therapeutischen Beziehung bearbeitet werden. Damit ist die Bindungstheorie eigentlich ein Plädoyer für die Psychoanalyse als die Behandlungsform, die traditionell über ein Modell der therapeutischen Beziehung und deren Wirkung auf den Patienten verfügt. Ich glaube nicht, dass eine Störung auf dem Niveau der unsicher-ambivalenten, geschweige denn der desorganisierten Bindung, in einer kürzeren Therapie bearbeitet werden kann. Hier könnten allenfalls Weichen gestellt werden.

 

Ich möchte Ihnen einen sehr langen Therapieverlauf darstellen, der für meinen Praxisalltag nicht untypisch ist:

 

Aus Diskretionsgründen ist dieser Fall aus der Internetpräsentation entfernt worden. Er kann jedoch bei mir gegen Berufsangabe und eine Schweigepflichtserklärung per Email angefordert werden.

 

Behandlungsregeln

 

An dieser Stelle möchte ich einige Anmerkungen zu der von mir verwendeten Technik der Arbeit mit Alkoholikern machen. Ich arbeite in Langzeitpsychotherapie mit vorwiegend abstinenten Patienten. Die Abstinenz kann aus eigener Kraft, durch Selbsthilfe, Entgiftung oder Entwöhnungsbehandlung erreicht sein. Interessanterweise erlebe ich mich durch süchtige Patienten in den ersten 10 – 20 Stunden austauschbar und als Person gar nicht wirklich wahrgenommen. Offenbar resultiert dies aus den anfangs beschriebenen Bindungsängsten, was zu einer Vermeidung von Abhängigkeit führt. Es kommt in dieser Anfangsphase daher häufig zu Therapieabbrüchen. Haben sie einmal eine Beziehung aufgenommen, sind gerade Alkoholiker überaus treue Patienten. Frau A ist nicht die einzige, die mich beinahe durch mein gesamtes Berufsleben begleitet. Meinen „dienstältesten“ trockenen Alkoholiker kenne ich seit nun 30 Jahren, aber um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: auch er ist nicht in Dauertherapie!

 

Der Rückfall ist ein in der Psychotherapie unvermeidbares Phänomen; schließlich kann man kein Symptom verbieten. Ich treffe in etwa die folgende Vereinbarung:

Ihre Behandlung sollte unter der Abstinenz vom Suchtmittel erfolgen. Da ich Sie aber nur ein / zwei mal die Woche sehe, kann und will ich dies im Gegensatz zu einer stationären Einrichtung nicht kontrollieren. Die Grundlage unserer therapeutischen Beziehung ist die Offenheit, gerade hinsichtlich des Suchtmittels; deshalb kann ich einen Rückfall auch nicht sanktionieren, weil ich Sie sonst zum Lügen verführen würde. Wenn Sie mir einen Rückfall verschweigen, belügen Sie nicht mich, sondern im Endeffekt sich selbst, weil die therapeutische Arbeit dann sinnlos wird.“ (Rost 2009, S. XXX)

Der Rückfall wird meiner Erfahrung nach spätestens nach einigen Wochen „gebeichtet“, und ist in aller Regel auch als ein Hinweis auf Konflikte oder Störungen in der analytischen Beziehung zu sehen, die damit der Bearbeitung überhaupt erst zugänglich werden. Somit bietet der Rückfall auch ein therapeutisches Potential, ist jedoch aufgrund des destruktiven Charakters einer Suchterkrankung ernst zu nehmen, ohne dabei in Panik verfallen zu müssen. Äußerstenfalls muss eine stationäre Entgiftung zwischengeschaltet werden, nach der die Behandlung fortgeführt wird. Es sollte möglichst nicht mit der Sanktion „Therapieabbruch bei Rückfall“ gedroht werden. In der Praxis wird sich die therapeutische Beziehung ohnedies auflösen, wenn das Suchtmittel wieder zum beherrschenden Liebesobjekt geworden ist.

Ziel ist, dass Patient und Therapeut offen und bewusst, ohne Verleugnung oder Bagatellisierung, aber auch ohne Angst und Dramatisierung, gemeinsam mit dem Symptom umgehen können, wenn es denn wieder aufgetreten ist.

Auch bei Frau A. kam es in der Anfangszeit der Therapie zu Rückfällen, und eine stationäre Entgiftung wurde erforderlich. Seitdem ist sie abstinent. Es findet in der ambulanten Psychotherapie eine Art spontaner Selektion statt: entweder der Patient kann die Abstinenz aufrecht erhalten und seine Rückfälle in der Behandlung bearbeiten, oder es kommt zum Therapieabbruch. Die Art des Arbeitens ist durch die folgende Technik charakterisiert:

 

  • Die Vermeidung übermäßiger Regression, um den Patienten nicht zu sehr unter Druck zu bringen, womit sonst ein destruktives – meist autodestruktives – Agieren oder ein Suchtmittelrückfall ausgelöst werden könnte.

  • In den produzierten Erinnerungen darauf achten, dass nicht nur negatives Material berichtet wird, um einer malignen Regression entgegenzuwirken; stattdessen auch positive Erinnerungen fördern.

  • Mit den gesunden Anteilen arbeiten und diese verstärken.

  • Das Setting zumindest anfänglich eher im Sitzen als im Liegen halten, damit der Therapeut in seinen Reaktionen und Gefühlen als Realperson wahrgenommen werden und als Modell dienen kann.

  • Eine aktivere Technik mit häufigeren Interventionen, Nachfragen, dem Spiegeln und Benennen von Gefühlen, notfalls auch „Verboten“, was heißt: klare Position beziehen gegen ein destruktives Agieren.

  • Eine stärker supportive Technik mit durchaus „verhaltenstherapeutischen Elementen“ wie z.B. positiven Verstärkungen, gegebenenfalls aber auch deutlichen. Konfrontationen oder Anweisungen; das bedeutet auch:

  • Eine Relativierung der analytischen Abstinenz; weniger Deutungen und andere genetische Interpretationen; überwiegend wird im „Hier und Jetzt“ gearbeitet.

  • Sich dabei durchaus auch mal „vom Patienten leiten lassen“ und dessen Anregungen und Wünsche hinsichtlich der Technik und des Settings aufgreifen.

  • Das Leitsymptom „Sucht“ stets im Auge behalten; eine Laisser-faire-Haltung gegenüber dem Suchtmittel ist nicht akzeptabel; die Abstinenz des Patienten ist stets zu stützen und als Behandlungsbasis zu fordern; Rückfallängste („Saufdruck“) sind immer ernst zu nehmen und sind oft auch als Ausdruck von Krisen der therapeutischen Beziehung zu verstehen und zu bearbeiten.

  • Zumindest anfänglich ein Tolerieren von „Nebenübertragungen“; das zutage tretende destruktive Potential kann unter Umständen nicht allein in der Übertragungsbeziehung gehalten und bearbeitet werden, so dass ein Agieren im Außen eine Entlastung der therapeutischen Beziehung darstellen kann. Damit geht einher:

  • Das Herstellen von und Arbeiten mit einer überwiegend positiven Übertragung auf den Therapeuten.

 

Ich versuche, die vorgegebenen Kontingente der Kassenpsychotherapie auszuschöpfen, und im Sinne einer modifizierten analytischen Psychotherapie niederfrequent, in der Regel mit einer Wochenstunde, aber über eine möglichst lange Zeit zu arbeiten, weil die Dauer und Stabilität der Beziehung zum Behandler m.E. das wichtigste therapeutische Agens darstellt.

 

Die Bedeutung der therapeutischen Beziehung

 

Bei schweren Grundstörungen der Sucht, die gekennzeichnet sind durch multiple Komorbidität, eine lange Krankengeschichte und erkennbare Ursachen in der Kindheit, eine Bindungsstörung unsicher-ambivalenter oder desorganisierter Art, ist die modifizierte analytische Langzeitbehandlung die Methode der Wahl. Der wichtigste kurative Faktor ist dabei die langjährige, stabile therapeutische Beziehung zu einem Behandler, analytisch gesprochen: die Objektkonstanz. Nur diese ermöglicht das Erleben und Verinnerlichen besserer Beziehungserfahrungen, eine Heilung der gestörten inneren Repräsentanzen. Denn: jede Sucht ist zentral und zuallererst gekennzeichnet durch gestörte Beziehungen, einer in der Kindheit erfahrenen und bis ins Erwachsenenalter transportierten und wiederholten Bindungsstörung. Es ist das Charakteristikum jeder Suchterkrankung, egal von welchem Suchtmittel, dass dieses das zentrale Bezugsobjekt des Betroffenen wird, er sich von den personalen Beziehungen zurückzieht, Liebe, Haß und andere Konflikte mit seinem „Stoff“ austrägt. Wenn ein Symptom allen Süchtigen gemeinsam ist, dann ist es die Beziehungsstörung. Da familiäre und partnerschaftliche Beziehungen damit jedoch überlastet wären, ist ein über lange Zeit verfügbarer Psychotherapeut erforderlich. Heilung bzw. wenigstens eine Bearbeitung dieser Störung kann nur funktionieren, wenn diese Auseinandersetzung zurückgeführt wird in eine Beziehung zu einem Menschen. Die Ambivalenz zwischen Liebe und Haß, Nähewünschen und Ängsten vor Autonomieverlust können zunächst nur in der Therapie aufgefangen werden, denn jede reale Beziehung würde davon überfordert und gesprengt.

Der amerikanische Analytiker Flores sagte auf der Tagung 2011 in München. „Da Sucht sowohl eine Folge als auch die >Lösung< des Problems ist, dass es an befriedigenden Beziehungen fehlt, muss der Akzent notwendigerweise auf der Fähigkeit liegen, Bindungen zu anderen Menschen einzugehen, wenn die Behandlung erfolgreich sein soll. Reife steht für die Fähigkeit, sich selbst und die andere Person als eigenständige Individuen mit je eigenen Bedürfnissen und Wünschen zu sehen, als Personen, zu denen empathische reziproke Beziehungen eingegangen werden können, die nicht auf Forderungen, sondern auf Wechselseitigkeit beruhen“ (Flores 2013, 46f).

Die Modularisierung der Suchttherapie, wie wir sie in den vergangenen Jahren besonders in Deutschland erlebt haben – wie es hier in Österreich aussieht kann ich leider nicht sagen - ist den tatsächlichen therapeutischen Erfordernissen entgegengesetzt. Auch die Zergliederung in entsendende Beratungsstelle, stationäre Entgiftung in einer psychiatrischen oder internistischen Abteilung, wohnortferne Entwöhnungsbehandlung, schließlich wieder Beratungsstelle, immer neue Therapeuten, immer neue Therapiebausteine, dienen allein dem Schutz der Behandler vor der Auseinandersetzung mit der oft tödlichen Autodestruktivität der Sucht, sind eine Flucht vor der ungeheuren Komplexität der komorbiden Erkrankungen und den zugrundeliegenden Störungen, eine Vermeidung der therapeutischen Beziehung zum Patienten. Sehen wir nur einen Ausschnitt aus der Krankengeschichte, erlaubt uns das auch, die Komplexität und damit die mögliche eigene Überforderung zu reduzieren. Den Patienten dient das jedenfalls nicht.

 

Es mag so aussehen, als forderte ich, gewissermaßen kontraphobisch und gegen den gesellschaftlichen und therapeutischen Trend, einen Alleinvertretungsanspruch der analytischen Verfahren. Das möchte ich hier abschließend relativieren, denn, abgesehen von meinem Hintergrundverständnis: in meiner therapeutischen Praxis arbeite ich keineswegs klassisch psychoanalytisch, sondern eklektisch, manchmal ganz alltäglich, selbstgestrickt, aber eben mit der Beziehung. Behandler anderer Therapierichtungen, etwa in Beratungsstellen oder mit humanistischem Hintergrund, können das genauso gut, so sie sich auf die therapeutische Beziehung einlassen. Nicht abkommen möchte ich jedoch von der Langzeitperspektive und der Objektkonstanz. Sie sind die therapeutischen Wirkfaktoren bei schweren Formen der Sucht, während Evidenzbasierung und Modularisierung kontraindiziert sind. Denn es handelt sich immer um eine komplexe, komorbide Störung, in deren Zentrum eine beeinträchtige Beziehungsfähigkeit steht. Aber gerade die sehr lange Therapie von Patienten vermag dem Behandler auch Erfolgserlebnisse verschaffen, denn man kann hier an einer allmählichen und dauerhaften, wenn auch niemals geradlinigen Stabilisierung teilhaben.

 

Zusammenfassung:

Wir finden also in der durch die Bindungstheorie modifizierten Objektbeziehungstheorie den Schlüssel für das Verständnis der Beziehung des Süchtigen zu seiner Droge. Die Liebesbeziehung zum Suchtmittel ist, wie einst die zur Mutter bzw. der primären Bezugsperson, stets ambivalent geprägt. Anders als es der Süchtige sich selbst vorgaukelt und nach Außen hin vorgibt, ist die Droge eben nicht nur das versorgende und liebende Objekt, sondern über diese werden Liebe und Haß der unsicheren und der ambivalenten Bindung ausgetragen, was das Suchtmittel im Endeffekt zerstörerisch macht. Im Weg zur Abstinenz muß diese Mystifizierung, die vordergründige Idealisierung des Suchtmittels, aufgelöst werden, wie es die Anonymen Alkoholiker exemplarisch entwickelt haben. Nur dadurch kann sich die Bindung an die Droge lösen.

Dieser Prozeß der Mystifizierung und deren Auflösung lässt sich durch die Bindungstheorie z.T. besser beschreiben als mit dem Modell Melanie Kleins.