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Wolf-Detlef Rost

Sucht, Psychose und Kreativität

Zuerst publiziert in S. Mentzos, A. Münch: Psychose und Sucht. Vandenhoeck und Ruprecht Göttingen 2002.

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Doppeldiagnose „Sucht und Psychose“ in der Entwicklung der Psychiatrie

Es ist noch gar nicht so lange her, daß Alkoholismus und Psychose als einander gegenseitig ausschließende Diagnosen angesehen wurden. Allenfalls wurde akzeptiert, daß der Alkoholabusus paranoide Phantasien, einen Beziehungswahn, oder in Folge einer fortschreitenden alkoholbedingten Hirnschädigung eine sekundäre Psychose auszulösen vermag. „Die in der Schizophrenie als so bedrohlich erlebte Desintegration der Ich-Funktionen würde davor bewahren, Versuche mit zusätzlich desintegrierenden Rauschmitteln zu unternehmen. Einer schizophrenen Psychose wurde gleichsam eine suchtprophylaktische Wirkung zugeschrieben“ (Schwoon u. Krausz 1992, S. 7f). Dieses „entweder-oder-Prinzip“ ist auch auf die nach meinem Eindruck häufig zu beobachtenden Tendenz von Therapeuten und Diagnostikern zurückzuführen, für die Behandlung die Komplexität psychischen wie somatischen Krankheitsgeschehens zu reduzieren, vielleicht auch in dem Bemühen, nicht vorschnell in eine therapeutische Resignation zu verfallen.

Neuere Untersuchungen ergaben allerdings, daß bei nicht wenigen Patienten die Diagnose „Psychose und Sucht“ gestellt werden muß, wobei die Zahlenangaben hinsichlich der Prävalenz dieser Doppeldiagnose absonderlicherweise von ein bis drei Prozent (Schlüter-Dupont 1990, S. 164) bis hin zu sechszig Prozent (Schwoon u. Krausz 1992) variieren. Es liegt auf der Hand, daß solch immense Unterschiede in den Zahlenangaben nur auf eine sehr unterschiedliche Sichtweise der jeweiligen Untersucher zurückzuführen sein können, wobei Schwoon und Krausz vermuten, daß die Suchtdiagnose oft - fälschlicherweise - aufgrund ihres negativen Images vermieden wird: „Sucht erscheint weiterhin als eine Krankheit zweiter Klasse, so daß im diagnostischen Jargon allenfalls so weit gegangen wird, von einem >sekundären Abusus< zu sprechen“ (1992, S. 8).

Nun ist seit etwa zehn Jahren der Begriff der „Komorbidität“ in Mode gekommen. Viele Kliniker diagnostizieren heute nicht zuletzt aus der ökonomischen Notwendigkeit heraus verschiedene psychische Störungen, um im stationären Bereich gegenüber der Krankenkasse eine längere Verweildauer der Patienten zu erstreiten, da. z.B. die reine Entgiftung von Alkohol oder anderen Suchtmitteln in psychiatrischen wie internistischen Einrichtungen zu immer kürzeren Verweildauern berechtigt. Nur die Diagnose weiterer somatischer Erkrankungen, Alkoholfolgeschäden sowie anderer Störungen aus dem psychiatrischen Formenkreis kann dann eine Verlängerung des stationären Aufenthaltes bewirken. Da für Süchtige eine reine Entgiftung niemals ausreicht, bliebe ansonsten nur die Wahl, den Antrag auf eine „Entwöhnungsbehandlung“ zu stellen - eine Kostenverschiebung auf die Rentenversicherungsträger mit der zweifelhaften Konsequenz, daß die wohnortferne Behandlung in einer Fachklinik die gerade bei Abhängigen an sich erforderliche therapeutische Objektkonstanz über längere Zeit verhindert.

Das Fatale dabei ist, daß das diagnostische Vorgehen durch die modernen Diagnosekataloge DSM III und besonders ICD 10 beherrscht wird, die vordergründig und rein deskriptiv angelegt ausdrücklich verlangen, unterschiedliche Diagnosekategorien unverbunden aneinanderzureihen, frei nach dem alten medizinischen Prinzip: „Der Hund kann Läuse und Flöhe haben“. Den Urhebern des ICD 10 ist das psychoanalytische Denken, das in komplexen Strukturdiagnosen um den Zusammenhang verschiedener Krankheitsbilder und deren gemeinsame Psychogenese bemüht ist, obsolet.

Wie Mentzos wiederholt (1992, 2000) beschrieben hat, geht es jedoch gerade darum, den Zusammenhang der unterschiedlichen Symptome zu verstehen und diese auf ihre gemeinsame Ursache zurückzuführen. Dafür ist ein psychodynamisches Modell unverzichtbar, gerade weil häufig ein Symptomwechsel zu beobachten ist (Mentzos 1992). Dieses Phänomen findet sich gerade bei der Sucht im allgemeinen und dem Alkoholismus im besonderen. Das Aufbrechen neuer Symptome in der Abstienz überrascht wie frustriert viele Ärzte und Therapeuten, die oft fälschlich davon ausgehen, daß mit dem Entzug der toxischen Substanz, der „Trockenlegung“ alle Probleme gelöst sein müßten und es dem Patienten körperlich wie psychisch doch nun besser gehen sollte wenn er es dann schafft, abstinent zu bleiben. Auch Süchtige selber, so besonders die Anonymen Alkoholiker, stricken an dem Mythos, es sei alles in Ordnung wenn es nur gelinge, dem Alkohol fern zu bleiben. Ganz im Gegenteil leiden abstinente Alkoholiker aber sehr massiv und oft viel stärker als in ihren „nassen Phasen“. Neben dem Wechsel in andere Süchte wie z.B.Spielautomaten oder Essen (Bulimarexie) quälen besonders massive Schlafstörungen und die Unfähigkeit zur Entspannung, die wohl bei wenigstens neunzig Prozent aller trockenen Alkoholiker bestehen und nach dem Entzug noch über Jahre anhalten. Ferner finden sich in der Suchtmittelabstinenz häufig schwere Depressionen, Ängste und Phobien unterschiedlicher Art, insbesondere soziale Ängste, eine Neigung zu Unfällen und eine Verschärfung psychosomatischer und körperlicher Erkrankungen, oft sehr ausgeprägte Zwänge und nicht zuletzt der Durchbruch von Psychosen. Viele Hausärzte, die zunächst froh waren, daß der Patient seine Sucht endlich in den Griff bekommen hat, stehen diesem Krankheitsgeschehen dann ratlos gegenüber. In Verkennung der fortbestehenden Suchtproblematik wie als Nebenprodukt der zunehmenden Medizinalisierung von Suchtbehandlungen werden dann oft abhängig machende Substanzen verordnet bis hin zu Diazepam, Tavor und starken Schmerzmitteln. Nicht selten wird so eine Abhängigkeit durch eine noch gefährlichere, iatrogene Sucht abgelöst. Die Legitimation liefert das neue Krankheitsmodell à la ICD 10, das unterstellt, es werde ja nun eine ganz andere Erkrankung behandelt, die mit der Sucht nichts mehr zu tun habe.

Der psychodynamische Ansatz

Das psychodynamische Denkmodell, obwohl heute weitgehend außer Mode gekommen, ist zum Verständnis wie zur Behandlung von Suchterkrankungen unverzichtbar, wenn das Dilemma einer sinnlosen Aneinanderreihung von Diagnosen vermieden werden soll. Wie von Freud wiederholt beschrieben, ist jedes Symptom eine Kompromißbildung, ein Versuch, Konflikte zwischen Triebimpulsen und den Strebungen des Ich oder des Über-Ich, bzw. den Anforderungen der Außenwelt zu lösen. In neuerer Terminologie ist jegliche Symptombildung eine Abwehr, die das Ich und dessen Funktionen aufrechterhalten, vor Ichzerfall, einer zunehmenden Desintegration und Regression schützen soll. Je nach Schwere der zu bewältigenden Konflikte bzw. je nach Reife und Entwicklungsstand der Persönlichkeit genügt dann entweder ein „reiferes“ Symptom wie eine Neurose als Selbstschutz, oder es kommt in Perversionen, Borderline-Manifestationen, Delinquenz und schließlich Psychose zur Regression auf immer frühere bzw. elementarere Abwehrstrukturen, um das Ich vor dem gänzlichen Zerfall zu schützen.

Eine besondere Rolle kommt dabei Suchtmitteln zu, klassisch vor allem dem Alkohol, der als von Außen zuführbare, jederzeit verfügbare Substanz ermöglicht, die Abwehr zu stabilisieren. Dies hat der ungarische Psychoanalytiker Sandor Rado schon sehr frühzeitig (1926, 1934) erkannt und besonders in seinem Aufsatz „Psychoanalyse der Pharmakothymie“ von 1934 in einer bis heute überzeugenden Form herausgearbeitet. Seine Idee vom Suchtmittel als Reizschutz eines schwachen Ich, dessen wiederholter Gebrauch aber letztlich zur „pharmakothymen Steuerung des Ich“ führt, ist ein bis heute gültig gebliebener Grundgedanke der psychoanalytischen Konzepte zur Sucht geblieben. Weitere wichtige Arbeiten, die die Abwehrfunktion der Suchtmittel behandeln, haben Glover (1933), Simmel (1949) und später Rosenfeld (1960, 1964) geliefert, wobei einhergehend mit der Entwicklung der psychoanalytischen Theorie immer deutlicher wurde, daß es sich bei der Sucht in den meisten Fällen um die Manifestation einer sogenannten „Frühstörung“ handelt, wobei die Abhängigkeit vor einer weiteren Defragmentierung und Selbstzerstörung schützt (Rost 1987).

Ein Fehler, der der breiteren Akzeptanz der Psychoanalyse in der Sucht geschadet hat, war neben unterschiedlichen und scheinbar widersprüchlichen Konzepten das vergebliche Bemühen, ein spezifisches Konfliktmodell für alle Suchtkranken finden zu wollen, ähnlich wie dies früher Franz Alexander für psychosomatische Erkrankungen versucht hat. Dieses Bemühen war zum Scheitern verurteilt, da es gerade bei einer ubiquitären Substanz wie dem Alkohol bei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten, Biographien und Entwicklungen zu einem Entgleisen des Alkoholkonsums und einer Abhängigkeit kommen kann. An anderer Stelle habe ich daher mehrfach (Rost 1987, 1998) dargelegt, daß Alkoholismus Begleitsymptom wie Abwehr der unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen, angefangen von Neurosen, Depressionen, Ichstörungen, Borderline- und Persönlichkeitsstörungen bis hin zu Psychosen sein kann. Allerdings manifestieren sich diese Abhängigkeitserkrankungen in Dynamik und Schwere recht unterschiedlich und verlangen auch verschiedene Arten der Behandlung.

An dieser Stelle interessiert natürlich in erster Linie der Zusammenhang zwischen Sucht und Psychose, wobei m.E. im Gegensatz zur klassischen Psychiatrie, die wie anfangs erwähnt in der psychotischen Erkrankung Süchtiger allenfalls die Folge einer akuten oder chronischen Alkoholintoxikation sieht, die Sucht der Abwehr der psychotischen Dekompensation dient. Der Alkohol wird hier als Selbstheilungsmittel bzw. als Selbstmedikation eingesetzt, da er unbewältigbare Affekte dämpft, die schwachen Ichgrenzen stärkt, und gegen Anforderungen und Ansprüche aus er Umwelt abschirmt. Nicht zu vernachlässigen ist der spezifische Objektcharakter des Suchtmittels: der Alkohol stellt ein jederzeit verfügbares, jedoch hochambivalent besetztes und überdeterminiertes Bezugsobjekt an der Grenze von Innen und Außen dar, nach meiner Einschätzung genetisch noch vor dem Übergangsobjekt im Sinne Winnicotts anzusiedeln, da er oral inkorporiert wird und nicht auf einer symbolisierbaren Ebene bleibt. Die Auseinandersetzung mit realen menschlichen Objekten wird aus der Angst vor Liebesverlust, notwendigerweise enttäuschten Erwartungen und dem Verlust der Grenzen des Selbst, dem symbiotischen Verschlungenwerden vermieden: die Droge ist immer das bessere Liebesobjekt. Hier kommt das Grunddilemma des Süchtigen dem des Schizophrenen sehr nahe, das Mentzos wie folgt charakterisiert hat: „Wie kann ich mir die lebensnotwendige Nähe, Wärme des Objektes und die Identifikationsmöglichkeiten mit ihm aufrechterhalten, zulassen und nutzen, ohne mein Selbst, meine Selbstidentität zu verlieren, ohne vom Objekt zerstört und verlassen, verworfen (oder nicht ´gesehen´) zu werden“ (1992, S. 12). Der Verzicht auf das Suchtmittel kann dann zum Durchbruch psychotischer Affekte, einer psychotischen Episode und unter Umständen auch zu einer längerdauernden psychotischen Dekompensation führen.

In der Praxis wurde ich damit erstmals vor mehr als zwanzig Jahren zu Beginn meiner Erfahrungen mit Alkoholikern als Therapeut in einer Fachklinik für Alkoholabhängige konfrontiert. In der Parallelgruppe auf meiner Station, die von einem Kollegen nach einem streng analytisch-abstinenten Konzept geführt wurde, saß ein zunächst unauffälliger Verwaltungsangestellter in den Vierzigern. Nach Entgiftung und Aufnahmestation war er zu diesem Zeitpunkt wenigstens drei Monate abstinent. Er hielt das Schweigen in den - täglich stattfindenden - Gruppensitzungen nicht aus, belegte den Kollegen zunächst über Wochen mit heftigsten verbalen Aggressionen, Haßtiraden und paranoiden Phantasien, um schließlich, als dies nichts fruchtete, in ein fast katatones Schweigen zu verfallen. Er fixierte den Therapeuten jeweils 90 Minuten lang mit einem starren, paranoiden, „irre“ wirkenden Blick. Dabei saß er stocksteif und gänzlich verspannt, wie ein Panther vor dem Sprung, auf seinem Stuhl; dabei lief ihm der Schweiß in Strömen aus dem Gesicht. Er wie der Therapeut hielten diesen paranoiden Zustand über Wochen aus, letztendlich zum Gewinn des Patienten, wenn auch auf Kosten der übrigen Gruppe. Dies war zu einer Zeit, wo die Vergabe von Psychopharmaka an Süchtige noch gänzlich verpönt war, so daß die Regression des Patienten nicht gestoppt wurde. Schließlich brach der Affekt des Patienten wieder durch, jedoch in einer recht konstruktiven Form: in der nonverbalen Therapie fand er eine kreative Ausdrucksmöglichkeit seines Wahnes. Zur Begeisterung der Gestaltungstherapeutin formte er, der noch nie in seinem Leben einen Klumpen Ton in der Hand gehalten hatte, mit der Kraft seiner geballten Wut auf einer alten, fußbetriebenen Töpferscheibe aus dem Stand heraus mannshohe Vasen. Schließlich stieg er auf Masken aus Ton um, die vielschichtig, schaurig wie genial zugleich waren, ausdrucksstark, wie man es von den Masken sogenannter „primitiver Kulturen“ kennt.

Ich weiß nicht, was aus diesem Mann später geworden ist, aber er verließ nach mehr als sechs Monaten und nach dem Durchleben seiner paranoid-psychotischen Episode die Klinik offen, fröhlich, und um die Möglichkeit bereichert, seine Affekte statt mit Alkohol zu dämpfen, kreativ ausleben und ausdrücken zu können - nach meinem Eindruck der „Dritte Weg“, der sich neben Sucht und Psychose anbietet. Auch wenn dieser Weg natürlich nicht allen Süchtigen offensteht und das vorstehende Therapiebeispiel nicht unbedingt zur Nachahmung zu empfehlen ist, fällt doch auf, daß bei vielen Künstlern schwere psychische Krankheit, kreatives Schaffen und Sucht einander abwechseln. Hierzu mögen in erster Linie Maler wie z.B. Salvador Dali einfallen, der seine psychische Gestörtheit, die wohl allerdings eher eine schwere Hysterie als psychotischer Natur war, buchstäblich zelebrieren.

Sucht und Kreativität

Insbesondere sind es Schriftsteller, die in der Trias von Sucht, psychischer bzw. psychotischer Dekompensation und Kreativität wenigstens phasenweise den Weg zu einem kreativen Ausdruck ihrer Ängste, Konflikte und Wahnvorstellungen finden können. Unter den vielen, am Alkohol zugrundegegangenen Schriftstellern finden sich unter anderem die Klassiker E.A. Poe und E.T.A. Hoffmann, der u.a. in seiner Erzählung „Der Sandmann“ die Bedeutung des Unbewußten lange vor Sigmund Freud entdeckte und in fesselnder Form Wahnvorstellungen beschrieben hat.

Es muß an dieser Stelle jedoch ausdrücklich hervorgehoben werden, daß Sucht und künstlerisches Schaffen nicht voneinander wegzudenken sind, egal ob es sich um Literatur, Kunst, Musik oder Schauspiel handelt; in neuerer Zeit können wir Filmschaffende (z.B. Rainer Werner Faßbinder) oder Popmusiker ergänzen. Interessanterweise wurde der Zusammenhang zwischen Kreativität und Psychose stets anerkannt. Man denke nur an die berühmte Prinzhornsammlung (1922). Leo Navratil (1983, 1986) führte diese Forschungen fort. Im Bereich der bildenden Kunst werden immer wieder Werke psychotischer Künstler gezeigt; so wurde z.B. auf der Documenta in Kassel vor Jahren das Patientenzimmer des zeitlebens hospitalisierten Adolf Wölfli gezeigt.

Der ebenso augenscheinliche und quantitativ viel häufigere Zusammenhang zwischen Kreativität und Sucht wird demgegenüber zumeist ignoriert. Ich denke, daß Sucht bis in jüngste Zeit hinein als das „Schmuddelkind“ der Psychiatrie gilt, gerade Alkoholiker bei Ärzten nachweislich unbeliebte Patienten sind. Verantwortlich sind dafür Gegenübertragungsphantasien der Therapeuten: billigt man dem Psychotiker zu, daß er nur „Opfer“ ist, seine Krankheit ihn eben unglücklicherweise ereilt hat, wird Sucht letztendlich als „selbstverschuldet“ betrachtet (bei vielen Privatkrankenkassen gilt bis heute tatsächlich der Terminus der „selbstverschuldeten Krankheit“ für Abhängige). Unterstellt wird „Willensschwäche“, ja „Genußsüchtigkeit“. Übersehen wird das Leiden des Süchtigen, gegen das er mittels seines Alkoholkonsums anzukämpfen versucht. Der Verlust der Genußfähigkeit ist gerade ein zentrales Kriterium für die Unterscheidung zwischen „normalem“ und „süchtigen“ Trinken. Der Alkoholiker hat die Fähigkeit verloren, den Alkoholkonsum zu genießen; er trinkt nur noch, um gegen seine Ängste, Depressionen, Schlafstörungen und natürlich auch Entzugserscheinungen anzukämpfen. Da in unserer Gesellschaft jedoch Alkoholkonsum zum Alltag, zum Genuß und zur Entspannung gehört, wird das Krankhafte seines Handelns und das dahinterstehende Leiden übersehen.

So wird dem Psychotiker oft mit mehr Verständnis und Sympathie begegnet als dem Süchtigen. Es geht jedoch darum zu begreifen, daß Sucht und Psychose oft aus den gleichen Quellen gespeist werden, aus der gleichen tiefgreifenden „Grundstörung“ resultieren. Manfred Möhl hat in seinem Werk „Zur Psychodynamik des Todes in der Trunksucht“ (1993) ausführlich analysiert, daß die schweren Formen der Alkoholabhängigkeit Versuche der Bewältigung früher, schwerster Traumata sind, ein Versuch, die erlebte Erfahrung von Todesnähe zu wiederholen, um die alles beherrschende Todesangst zu bewältigen. Der süchtige Prozeß führt hin zu den elementarsten Gefühlen und Fragen der menschlichen Existenz - und in dieser Hinsicht ist der Süchtige nicht ichschwächer, sondern sogar ichstärker als der Psychotiker, denn im Gegensatz zu letzterem kämpft er lange, verzweifelt und zunächst auch noch erfolgreich gegen die Regression an, will die Kontrolle aufrechterhalten, erleidet dann aber unweigerlich den Kontrollverlust über den Konsum seines Suchtmittels. Ganz im Gegensatz zu den gängigen Klischees kenne ich unter Süchtigen viele überaus starke und leistungsfähige Persönlichkeiten mit ausgeprägtem Kontrollbedürfnis, die sich gerade deshalb in die Sucht verstricken, weil sie nicht aufhören können um die Kontrolle des Konsums zu kämpfen, wo sie ihnen schon längst entglitten ist, nach dem Motto: „Ich habe bisher alles geschafft - ich werde doch wohl meine eigenen Bedürfnisse in den Griff bekommen können“. Sucht und Zwang liegen oft sehr dicht beieinander! Ganz deutlich ist diese Dynamik bei Anorektikerinnen zu erkennen, und für die Anonymen Alkoholiker ist nicht ohne Grund der entscheidende Schritt zur Abstinenz die „Kapitulation“ - das Eingeständnis, gegenüber der Droge machtlos zu sein.

In ihrer Nähe zu den tiefsten Ebenen des menschlichen Unbewußten, der Auseinandersetzung mit den zentralen Fragen der menschlichen Existenz und dem wiederholten Erleben der Todesnähe, begegnen sich Süchtige und Psychotiker, und hier liegen auch die gemeinsamen Wurzeln von Sucht und Kreativität. Künstlerisches Schaffen führt über die bloße Spiegelung des Alltäglichen hinaus nur dann zu zeitüberdauernden Werken, wenn sie den Leser oder Betrachter zu konfrontieren vermögen mit seinen eigenen Gefühlen, Ängsten, Konflikten und existenziellen Fragen - und dies gilt insbesondere für die Literatur. Es handelt es sich jedoch um einen fatalen Irrtum anzunehmen, die Sucht würde die Kreativität fördern; auch viele Künstler und Literaten haben an diesem Mythos gestrickt. Vielmehr schließen Kreativität und Sucht zum gleichen Zeitpunkt einander wechselseitig aus! Dies haben auch einige Schriftsteller erkannt, so bereits E.T.A. Hoffmann (nach Dieckhoff 1982, S. 716, siehe auch Lehmann 1989). Vor dem Hintergrund der oben skizzierten psychoanalytischen Ansätze ist dies verständlich: der Suchtmittelkonsum steht im Dienste der Abwehr und verhindert ein Durchbrechen der zentralen Konflikte und Ängste; nur in Phasen der Abstinenz ist eine Auseinandersetzung mit diesen möglich, und der konstruktivere Weg ist dann der kreative Ausdruck. Kreativität und Sucht haben also die gleichen Wurzeln, können aber nicht zur gleichen Zeit auftreten. Es kommt dann zu eher zu einem Wechsel zwischen süchtigen Phasen und solchen der Abstinenz mit einem meist süchtigen kreativen Schaffen, wie dies z.B. der populäre Schriftsteller Hans Fallada dargestellt hat, der seine Romane in Abstinenzphasen stets in wenigen Wochen herunterschrieb.

Paralleles gilt übrigens auch für die Psychose: führt das psychotische Geschehen oft bis auf die elementarsten Ebenen des Erlebens, so wird dies heute durch die moderne Psychopharmakabehandlung verhindert, ähnlich wie in der „Selbstmedikation“ des Alkoholikers. Ich möchte daher bezweifeln, ob die moderne Psychiatrie noch Künstler wie den oben erwähnten Adolf Wölfli hervorzubringen vermag, oder ob allen Gestaltungstherapien zum Trotz der schöpferische Prozeß nicht von vorneherein abgewürgt würde. Der oben knapp dargestellte Behandlungsverlauf von vor zwanzig Jahren in einer Fachklinik wäre so heute nicht möglich; die Vergabe von Neuroleptika findet sich inzwischen im Standardrepertoire jeder Fachklinik für Alkohol- und Medikamentenabhängige.

Zusammengefaßt gehe ich also aus von einer Trias von Sucht, Psychose und Kreativität. Sucht und Psychose bestehen keineswegs unabhängig voneinander, sondern wurzeln in der gleichen tiefgreifenden Grundstörung. Es ist nochmals zu betonen,daß dies keineswegs für alle Süchtigen und erst recht nicht alle Alkoholiker gilt. Gerade der Alkoholismus ist in unserer Gesellschaft viel zu weit verbreitet, als daß man ihn auf eine einzige Grundstörung zurückführen könnte. Es findet sich unter Süchtigen jedoch eine keineswegs kleine Gruppe von Patienten mit massiv autodestruktiver Dynamik, die meist schon von frühester Kindheit an schwerste Traumatisierungen erlebt haben und versuchen, die Erfahrung der erlittenen Todesnähe zu bewältigen (Möhl 1993), indem sie sich immer wieder in lebensbedrohliche Situationen bringen, sei es durch Alkohol- oder andere Suchtmittelexzesse, Unfälle und bedrohliche körperliche Erkrankungen sowie Suizidversuche. In dieser Form der Sucht geht es stets um „Sein oder Nichtsein“, um die zentralen Fragen menschlicher Existenz, um tiefgreifende Zweifel an der eigenen Daseins- und Lebensberechtigung. Diesen Patienten geht es mit der Erlangung der Abstinenz keineswegs besser, sondern oft schlechter als zuvor, da sie die bisherige Abwehrformation aufgegeben haben. Da sie zugleich entgegen den gängigen Klischees oft sehr ichstark sind, kommt es oft dazu, daß sich diese Patienten suizidieren. Suizidversuche unter der Bedingung der Abstinenz sind bei Süchtigen viel gefährlicher, weil durchdachter und konsequenter als unter Alkohol! Auf alle Fälle ist mit einem Wechsel der autodestruktiven Mechanismen zu rechnen, da die Frage der eigenen Existenzberechtigung nicht gelöst ist, die direkte Auseinandersetzung mit dem Tode weiterhin gesucht wird. Bei Patienten dieser Struktur muß auch mit psychotischen Regressionen gerechnet werden.

Kreativität wäre dann der dritte, der „gesündeste Weg“ zur Lösung dieser Konflikte. Er steht, und dies sollte natürlich festgehalten werden, nur den wenigsten Süchtigen offen. Keineswegs ist jeder Süchtige ein verkappter Künstler, genausowenig wie jeder Psychotiker. Dennoch fällt immer wieder ins Auge, wie viele auch eher einfach strukturierte Alkoholiker den Weg über Malen, Gestalten, Musik und insbesondere das Schreiben suchen. Ohne Zweifel finden sich unter allen Künstlern viele Alkoholiker, und unter den namhaften Schriftstellern schätzt man ihren Anteil auf sechszig bis neunzig Prozent!. Dabei ist auch der kreative Weg leider oft nur eine zeitweilige Lösung, und viele Künstler und Schriftsteller fallen ihrer Sucht doch wieder anheim und finden einen frühen Tod. So errechnete Christian Schmidt (1994), daß Schriftsteller nur ein Durchschnittslter von 48 Jahren erreichen, bis sie direkt dem Alkohol, der Leberzirrhose oder dem Suizid zum Opfer fallen.

Therapeutische Möglichkeiten und Grenzen

Leider sind bei diesen tiefgreifenden Störungen auch die therapeutischen Möglichkeiten beschränkt. Immerhin wird ihnen in jüngerer Zeit mehr Augenmerk gewidmet; so sind in den letzten zehn Jahren die Stationen „Sucht und Psychose“ in psychiatrischen Kliniken buchstäblich wie die Pilze aus dem Boden geschossen. Auch dies ist allerdings oft eher ein Zugeständnis an ökonomische als an therapeutische Notwendigkeiten, da alle diese Kliniken dem Bettenabbau zu begegnen suchen und in diesem Kontext die zuvor ungeliebten Süchtigen als eine Klientel mit Zukunft entdeckt wurden. Die zunehmende Etablierung solcher Stationen läßt jedoch hoffen, daß psychiatrische Kliniken diesen Patienten in Zukunft mehr gerecht werden können. Nach meinem Eindruck ist oft schon viel gewonnen, wenn ihnen ein Überleben ermöglicht wird.

Auch in der ambulanten Praxis sind die Möglichkeiten hier begrenzt. Als analytischer Psychotherapeut, der in freier Praxis überwiegend mit (trockenen) Alkoholikern und anderen Süchtigen arbeitet, kann ich naturgemäß leider nicht mit psychotisch dekompensierten Patienten arbeiten. Auch das abschließende Fallbeispiel zeigt die Begrenzung der therapeutischen Möglichkeiten, wobei dieser Patient zwar nicht die Diagnose einer Psychose aufwies (die Vordiagnosen lauteten auf „Polytoxikomanie und Persönlichkeitsstörung auf dem Borderline-Niveau“), jedoch eine tiefgreifende Grundstörung mit schwersten Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend, die sich auch bereits bei den Eltern finden ließen.

Fallbeispiel: Die Not der Abstinenz

Der 37-jährige Patient ist, als ich ihn kennenlerne, seit vier Jahren trocken. Er ist mirvon einem älteren Kollegen geschickt worden, bei dem er zwei Jahren an einer Gruppe teilgenommen hat, ohne davon profitieren zu können. Ich erschrecke bei der ersten Begegnung regelrecht. Der Patient begegnet mir am ganzen Körper zitternd, bekommt auch während des Gesprächs nicht den Tremor aus den Händen. Er ist schweißgebadet, muß sich während des Gesprächs immer wieder dasGesicht abwischen. Die Vorinformationen erscheinen mir fast zweifelhaft, weil der Patient wie auf Entzug wirkt, bis ich realisiere, daß er wirklich seit über zwei Jahren frei von Alkohol und Medikamenten ist. Am stärksten fallen mir seine Augen auf: es sind die Blicke eines gehetzten Tieres. Der Patient berichtet mir langatmig von seiner Arbeitssituation. Er wird unter seiner Qualifikation als Techniker eingesetzt, muß diffizile, aber stumpfsinnige feinmotorische Arbeiten erledigen, was angesichts seines permanenten Tre­mors wirklich kaum vorstellbar erscheint. Er wird von Kolle­gen und Vorgesetzten auf teils übelste Weise schikaniert. Nun kenne ich die oft querulatorische Art und Weise, mit der sich viele trockene Alkoliker ausdauernd mit Vorgesetzten auseinandersetzen. Bei diesem Patienten ist allerdings für mich recht bald zu spüren, daß er in diesem Betrieb wirklich nicht existieren kann. Besorgt macht mich jedoch, daß ich mir bei ihm beim besten Willen nicht vorstellen kann, daß er einen anderen Arbeitsplatz findet, und daß ich feststellen muß, daß der Patient sonst keinerlei soziale Kontakte hat. Nach seiner Arbeit erledigt er die notwendigsten Einkäufe rasch, hetzt nach Hause, und vergräbt sich wie ein Tier in seiner Höhle in seiner Wohnung, die auch ähnlich wirken muß: seit Jahren nicht mehr aufgeräumt oder geputzt, verdunkelt, weil er die Rollos niemals hoch­zieht. Er braucht abends viele Stunden, um abzuschalten und sich zu entspannen, wälzt sich schweißgebadet im Bett herum, um erst gegen Morgen einzuschlafen und um sechs Uhr übernächtigt vom Wecker aus dem Schlaf gerissen zu werden. Am Wochenende und im Urlaub schläft er bis in den frühen Abend, um nachts sei­nem einzigen Hobby, der cineastischen Leidenschaft, zu frö­nen, die er mittels seines Videorecorders und hunderter Kassetten betreibt, denn der Weg ins Kino wäre schon zu weit hinein in eine bedrohliche Welt.

Ich brauche etliche Stunden, bis ich stückchenweise die Bio­graphie des Patienten erfahre. Die Mutter stammt aus einem Dorf in Rußland. Im Krieg wurden ihre Eltern vor den Augen des damals 15-jährigen Mädchens von den einrückenden Deut­schen ermordet und sie nach Deutschland verschleppt. 1945 wird sie von den Alliierten halbverhungert aus einem Ar­beitslager befreit undzur Rekonvaleszenz nachFrankreich gebracht. Hier lernt sie einige Zeit später einen deutschen Kriegsgefangenen kennen, den sie später heiratet. Der Pati­ent ist das erste Kind; zwei Jahre später wird eine Schwe­ster geboren. Die Familie lebt zunächst in Frankreich, aber der Vater geht nach einigen Jahren nach Deutschland, weil er beruflich im Ausland nicht Fuß fassen kann; der Patient sieht ihn lange Zeit nur noch ein bis zwei mal im Jahr. Die Mutter weigert sich aus verständlichen Gründen nach Deutschland zu kommen, mit dem sie so viel Schlimmes verbindet. Schließ­lich siedelt die Familie über, als der Patient bereits in der Schuleist. Er spricht zu diesem Zeitpunktkein Wort Deutsch, das auch die Mutter nicht beherrscht. Als Behelfsheim wird die Familie makabrerweise in einem Bunker untergebracht. Die Mutter trautsich kaum heraus, hat Angst, aufgrund ihres Akzentes als Russin erkannt und umgebracht zu werden. Der Patient selber verteidigt sich prügelnd und steinewerfend gegen Banden deutscher Kinder, zu denen er keinen Kontakt findet. Die Eltern zerstreiten sich unter diesen Lebensbedingungen, können ihren Kindern keine Hilfe geben, die nur aneinander Halt finden in Abschirmung gegen eine feindselige Welt, heranwachsen wie „Brüderchen und Schwesterchen“ aus dem Märchen, in der Pubertät schließlich auch eine sexuelle Beziehung miteinander eingehen. Dies erfahre ich allerdings erst nach fast zwei Jahren Therapie und auch, daß der Patient sich innerlich nie aus dieser Bindung zur Schwester lösen und auf eine andere Frau einlassen konnte.

Die Auseinandersetzungen zwischen den Eltern eskalieren, der Vater trinkt, geht fremd, mißhandelt Frau und Kinder. Der Patient bezieht die Position der Mutter, drängt sie zur Trennung vom Vater. Als sie wieder einmal mit Unterstützung­ und auf Drängen des zwischenzeitlich 16-jährigen Sohnes die Scheidung einreicht, vergast sich der Vater in seinem Auto. Die Mutter macht den Patienten stes für den Suizid des Vaters verantwortlich.

Ich übergehe hier das weitere familiäre Chaos. Der sehr in­telligente Patient macht auf Umwegen das Abitur. Er schafft Berufsausbildung und zeitweilige soziale Kontakte mittels massiven Alkoholkonsums. Phasenweise ist er von Medikamenten abhängig und nimmt Drogen. Er wird mehrfach entgiftet und landet für mehrere Monate in der Psychiatrie, zeigt den typischen Verlauf einer Polytoxikomanie. Schließlich schafft er es, abstinent zu bleiben, aber er gehört zu jenen Süchtigen, die nicht trocken bleiben, um zu leben, sondern leben, um trocken zu bleiben. Er besucht eine Abstinentengruppe, gerät hier zu­nächst in eine Außenseiterposition, um sich schließlich von den Gruppenmitgliedern verfolgt zu fühlen. Seine zunehmende soziale Desintegration ist nicht aufzuhalten. Kontakte be­schränken sich schließlich auf die ambivalente Beziehung zu seiner Mutter, den Arbeitsplatz, und Ärzte, die er wegen seiner Schlafstörungen, Angstzustände, dem Tremor und den Schweißausbrüchen aufsucht.

Er sagt mir einmal: „Solange ich noch getrunken habe, hatte ich ja keine Ahnung, wie schlecht es mir wirklich geht“. Ich spüre, daß ich als Therapeut angesichts dieses schweißgeba­deten, zitternden Angstbündels hilflos bin. Ich bemühe mich lediglich, den Kontakt zu halten. Stundenlang beschwert er sich über seine Kollegen, die Vorgesetzten, die Ärzte, die Krankenkasse, entfaltet sein paranoides System. In mehr als zwei Jahren Therapie ändert sich nichts, außer, daß sich in den Gesprächen eine gewisse Offenheit entwickelt. Auch er spürt wohl meine Hilflosigkeit und sagt eines Tages, er wol­le die Therapie beenden. Er sei jetzt aber weder mir noch seinen früheren Therapeuten böse. Er habe stets erwartet, daß man ihm helfen könne, ihm gewissermaßen die mögliche Hilfe immer nur vorenthalten habe. Jetzt habe er verstanden, daß dem nicht so sei, und daß er niemals normal und unbeschwert unter anderen Menschen werde leben können, daß er ein Außen­seiter bleibe - und er könne das jetzt akzeptieren. Beim Abschied läßt er seinen Schal zurück.

Auchich bin erleichtert, weil ich weiß, daß die bis in die Elterngeneration zurückreichenden Traumata und Verstrickungen zu massiv sind, als daß ich diesem Patienten wirklich hätte helfen können. Die zerstörerischen inneren Objekte, basie­rend wahrscheinlich schon aufdem Hintergrund der schlimmen Erlebnisse der Mutter (siehe zur Mehrgenerationenperspektive in der Entwicklung pschotischer Störungen auch Troje 2000), die es dieser verunmöglicht haben, ihren Kindern wenigstens minimalste Geborgenheit zu vermitteln, begründen hier eine basale Unfähigkeit zu leben und zu lie­ben. Der Patient ist unfähig, seine Affekte zu regulieren, sich selbst zu beruhigen und gegen andere abzugrenzen. Er braucht den Schutz der Wände seiner Wohnung, weil er sich ansonsten seiner Umwelt hilflos ausgeliefert fühlt.

Auch wenn im hier vorgestellten Falle eine „Heilung“ zweifellos nicht gelungen ist, so hat der Patient nach meinem Eindruck immerhin Akzeptanz und Verständnis seiner eigenen Erkrankung erlernt und vermag von daher vielleicht künftig besser damit zu leben. Sein Ausspruch „so lange ich noch getrunken habe, hatte ich ja gar keine Ahnung, wie schlecht es mir wirklich geht“, könnte so von vielen Alkoholikern stammen, die bei mir in Behandlung sind. Erkennbar standen Alkohol und Medikamente im Dienste der Abwehr einer psychischen Desintegration, wobei jedoch das Selbsthilfemittel im süchtigen Zirkel mehr und mehr zu einer tödlichen Gefahr wird. So hat die Abstinenz diesem Patienten zwar kein besseres Leben gebracht, aber immerhin ein Überleben ermöglicht, und diese Leistung gilt es zu respektieren.

Aufgrund der Schwere der mancher Suchtkrankheit zugrundeliegenden Störungen, ihrer Nähe zu psychotischen Erkrankungen, bleiben die psychotherapeutischen Möglichkeiten begrenzt. Dennoch ist eine psychotherapeutische Unterstützung sinnvoll und oft eine Hilfe zum Überleben, denn eine fortdauernde manifeste Sucht führt über kurz oder lang zum Tode. Der Respekt vor der Ichleistung, auch unter ungünstigsten Lebensumständen vom Suchtmittel abstinent zu bleiben, sich bedrohlichen inneren Affekten, Erinnerungen und Bildern mit der Gefahr einer mitunter psychotischen Regression auszusetzen, ist jedoch Voraussetzung der therapeutischen Arbeit mit Süchtigen.

 

Literatur:

 

Dieckhoff, R. (1982): Rausch und Realität; Literarische Avantgarde und Drogenkonsum von der Romantik bis zum Surrealismus. In: Rausch und Realität, Drogen im Kulturvergleich, Bd. 2, Reinbek b. Hamburg (Rowohlt).

Glover, E(1933): Zur Ätiologie der Sucht. In: Int. Z. Psychoanalyse 19: 170-197.

Lehmann, A(1989): Schriftsteller und Alkohol. Biographie und Werk. In: Tretter et al.: Sucht und Literatur. Freiburg (Lambertus).

Mentzos, S. (1992):Der Syndromwechsel und seine Bedeutung für die Psychosentherapie. In: ders., Psychose und Konflikt. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

ders. (2000): Das psychosoziale Feld ist nicht nur für das So-Sein, sondern - partiell - auch für das Da-Sein der Psychose von Bedeutung. In: Mentzos, S.; Münch, A.. (Hg.): Die Bedeutung des psychosozialen Feldes und der Beziehung für Genese, Psychodynamik, Therapie und Prophylaxe der Psychosen. Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht).

Möhl, M. (1993): Zur Psychodynamik des Todes in der Trunksucht. Versuch einer tiefenpsychologisch-anthropologischen Deutung. Würzburg (Königshausen & Neumann).

Navratil, L. (1983): Die Künstler aus Gugging. Wien/Berlin (Medusa).

ders.(1986):Schizophrenie und Dichtkunst. München (DTV). Neuauflage Frankfurt (Fischer) 1994.

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