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Wolf-Detlef Rost

Psychodynamische Psychotherapie der Sucht

(Vortragsskript; an verschiedenen Orten gehalten)

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Unter Psychoanalytikern gelten Süchtige als für die Psychotherapie ungeeignete Patienten, und in den Psychotherapierichtlinien gilt eine manifeste Sucht ausdrücklich als Ausschlußgrund für eine ambulante Psychotherapie. Aber auch Abhängige, die eine Abstinenz von der Droge erreichen, haben es nicht leichter. Selbst wenn ihr letzter Rückfall Jahre zurückliegt, werden sie von den meisten Therapeuten bereits am Telefon abgewimmelt, sobald das Stichwort „Sucht“ fällt.

In der Wahrnehmung der Therapeuten - anfangs auch in der Sicht der Betroffenen - reduziert sich das Problem zu einseitig auf das Suchtmittel. Eine landläufige Auffassung zur Sucht ist: wenn der Alkoholiker trocken, der Drogenabhängige abstinent ist, hat er zufrieden und glücklich zu sein, da er ja nun sein Hauptproblem gelöst bzw. wenigstens im Griff hat. Was nun, wenn er es zwar schafft, abstinent zu werden, aber alles andere als glücklich ist, vielleicht sogar das Gefühl hat, es gehe ihm schlechter als je zuvor? Wenn er nicht nur unter Schlafstörungen, sondern unter schwersten Angstzuständen, Depressionen oder unkontrollierbaren Zuständen von Aggressivität leidet, wenn er sich extrem zwanghaft verhält, unterschiedlichste psychische oder auch körperliche Symptome entwickelt, und im Extremfall schließlich alle Sozialkontakte aufgibt und kaum noch aus dem Hause geht oder suizidal wird?

Heute wissen wir, dass mit der Abstinenz vom Alkohol der natürlich unabdingbare Schritt zum Überleben des Süchtigen getan ist. Über seine sonstige psychische wie auch physische Gesundheit sagt dies jedoch nichts aus.
In den fünfziger Jahren schrieb schon Alexander Mitscherlich in Bezug auf den medizinischen Fortschritt: „Krankheit erwies sich unbegrenzter Metamorphose fähig“. Weil sie Ausdruck menschlichen Leidens ist, treten an die Stelle jeder Krankheit, die erfolgreich behandelt werden kann, mehrere neue wie gerade auch bei der Sucht. In der medizinischen Forschung hat dieses Phänomen seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „Komorbidität“ Eingang gefunden, wobei unterschiedliche, meist jedoch sehr hohe Prozentzahlen für das Vorliegen von Komorbiditäten mit anderen Erkrankungen angegeben werden. Für Psychoanalytiker ist dies ein alter Hut. Für sie war die Sucht von jeher der Ausdruck tieferliegender Konflikte und Störungen in der Persönlichkeit, nicht mehr als die Spitze des Eisberges, wobei die in der akuten Sucht kaschierten Konflikte unter den Bedingungen der Abstinenz nur um so deutlicher hervortreten. Der Psychoanalytiker Robert Knight schrieb bereits 1937: „Man findet niemals einen Alkoholiker, der nüchtern eine psychisch gesunde Person ist“, oder noch pointierter bei Menninger (1974): „Der Alkoholiker leidet insgeheim an einem unaussprechlichen Schrecken, dem er nicht ins Antlitz zu sehen wagt. Er kennt nur das Mittel des Ertränkens der Furcht ...“

Leon Wurmser, der über viele Jahre analytisch mit Drogenabhängigen gearbeitet hat, schreibt: „Jeder, der eng mit einem Drogenabhängigen zusammenarbeitet, erlebt immer wieder, dass der Patient beim Entzug seiner Droge der Wahl verzweifelt versucht, diese durch ein anderes Symptom zu ersetzen.“ (1997, S. 89).

Dies ist auch das Problem vieler Hausärzte und Psychotherapeuten. Trockengelegte Süchtige bestürmen ihre Praxen, präsentieren ihr Leid, das durch die Abstinenz von der Droge nicht geringer, sondern oft sogar quälender geworden ist, denn nun sind sie ja ihres Ventils, ihres Schutzes, ihres Selbstheilungsmittels beraubt. Dies ist auch eines der Hauptprobleme in der Substitutionsbehandlung von Drogenabhängigen, die ich dennoch klar befürworte: der Mehrzahl der Substituierten reicht es eben nicht aus, dass sie keine Entzugssymptome bekommen und ihre psychische Regulation durch das Methadon einigermaßen ins Gleichgewicht gebracht worden ist; entscheidende Lebensgefühle fehlen ihnen weiterhin. Dies führt dazu, dass sie sich zusätzlich anderer Suchtmittel, insbesondere des Alkohols oder Amphetaminen bedienen.

Wie beschrieben müssen Ärzte und Therapeuten, aber auch die Betroffenen selber feststellen, dass es ihnen mit der Abstinenz keineswegs besser geht. Ganz im Gegenteil kommt es zu einem Aufbrechen unterschiedlichster psychischer wie körperlicher Symptome, deren Ursprünge sich meist bis in die Zeit vor der manifesten Abhängigkeit zurückführen lassen.

Hier liegt der Ansatz für die Psychoanalyse. Keine Behandlungstheorie verfügt über ein solch umfassendes, über lange Jahre entwickeltes Modell zum Verständnis der Psychogenese wie zur Therapie komplexer und tiefgreifender Störungen. Ferner ist es für die Psychoanalyse von jeher eine Binsenweisheit gewesen, dass das Symptom immer nur die Spitze des Eisberges und nicht die Erkrankung an sich ist. Dies gilt allerdings bereits für die weniger schwerwiegenden Erkrankungen wie z.B. die Neurosen, unser tradiertes Arbeitsfeld.

In der Arbeit mit Süchtigen gibt es aber spezifische Probleme. Wir wissen heute, dass es ganz verschiedene Verläufe von Sucht gibt, ganz unterschiedliche Persönlichkeiten und vielfältige Funktionen des Suchtmittels. Eines aber ist m.E. allen Süchtigen gemein: Dass sie mehr oder minder beziehungsgestört sind. Auch unter der Bedingung der Abstinenz vom Suchtmittel ist mir bisher noch kein Abhängiger begegnet, bei dem man von reifen oder gesunden Beziehungsmustern sprechen könnte. Das Gemeinsame aller Formen von Sucht ist, dass der Abhängige die personalen Bezugsobjekte ausgetauscht hat gegen stoffliche Liebesobjekte, die er nach seinen Bedürfnisse handhaben kann, und mittels derer er seine Konflikte, seine Wünsche und Frustrationen, seine Ambivalenzen zwischen Liebe und Haß austrägt.

Das Suchtmittel ist bekanntlich immer das wichtigere, das zentralere Liebesobjekt, und daher ist der Rückfall auch oft für den Behandler so bedrohlich und kränkend, weiß er doch: der Patient hat nun wieder ein mächtigeres Liebesobjekt gefunden, und hat das, was in der Therapie bearbeitet und erreicht wurde, buchstäblich „weggespült“. Das Suchtmittel bedroht daher auch den Therapeuten, kann ihn jederzeit depotenzieren. Aber es gibt noch weitere Probleme, gerade in der Abgrenzung gegenüber Alkoholikern. Diese sind in der Allgegenwart dieses Suchtmittels begründet. Bei anderen psychischen oder auch körperlichen Erkrankungen können wir uns in der Regel besser abgrenzen und distanzieren: man hat sie entweder, oder sie bedrohen einen nicht direkt. Alkohol jedoch trinken wir fast alle, und wenn nicht, eben aus dem Grunde, weil wir ein Problem damit haben, entweder als trockene Alkoholiker oder Angehörige, die als Kinder einst unter der Sucht von Vater oder Mutter litten. Was unterscheidet dann mich, der ich zum Genuß und zur Entspannung auch mal das eine oder andere Bier, ein paar Gläschen Wein trinke denn von diesem Patienten, fragt man sich dann mitunter. Könnte es nicht so weit kommen oder war auch schon mal nahe daran, dass ich hier statt als Therapeut als Patient sitzen könnte? Diese häufig erlebte Nähe zum Patienten ist ein Problem in der Gegenübertragung und fördert aggressive Phantasien und Wünsche: der Alkoholiker soll sich doch einfach mal besser zusammenreißen. Schließlich schaffe ich das auch und gehe zur Arbeit, selbst wenn ich keine Lust dazu habe. Ich kann mich ja auch nicht immer fallen und es mir gut gehen lassen…

In dieser verbreiteten Gegenübertragungsphantasie steckt ein grundsätzliches Mißverständnis des süchtigen Geschehens. M.E. liegt die Grenze zwischen normalem und süchtigem Trinken dort, wo die Genussfähigkeit verloren gegangen ist. Der Süchtige kann das Trinken nicht mehr genießen, sondern er trinkt unter Zwang, um Leid oder psychischen Schmerz zu vermeiden, trinkt unter Schuldgefühlen, im Extremfall sogar unter Ekel oder mit dem Ziel, sich selbst zu schädigen und zu zerstören.

Und mit dem Stichwort „zerstören“ kommen wir zu einem zentralen Gegenstand meines Vortrags und einer spezifischen Schwierigkeit in der Arbeit mit Süchtigen. Ich behaupte: Suchttherapie ist die einzige Psychotherapie, die unter der ständigen Gegenwart des Todes stattfindet. Sucht in ihren verschiedenen Formen ist die wohl einzige, zumindest die am weitesten verbreitete Erkrankung psychischer Genese, die in den meisten Fällen, so sie nicht zum Stillstand gebracht wird, zum Tod des Patienten, zumindest zu seiner weitgehenden psychischen, sozialen und körperlichen Zerstörung führt. Dies gilt für fast alle Fälle, in denen schwere Persönlichkeitsstörungen – in der Psychoanalyse sprechen wir auch von „frühen Störungen“ – den Hintergrund der Suchterkrankung bilden. Hier sind auch alle Therapeuten, die mit solchen Patienten arbeiten, in ihrer Abgrenzungsfähigkeit gefordert wie auch hinsichtlich ihrer eigenen Psychohygiene und der Bewältigung ihrer Gegenübertragung, der Ängste, Aggressionen und Schuldgefühle gegenüber dem Patienten. Es bedarf oft einer schwierigen Gratwanderung, Süchtigen zu helfen ohne sich in deren destruktiven Zirkel hineinziehen zu lassen oder selber mit Depressionen und Schuldgefühlen zu reagieren, um sich nicht schließlich „ausgebrannt“ zu fühlen.

Vorab möchte ich Ihnen jedoch knapp ein theoretisches Modell zur diagnostischen Unterscheidung verschiedener Suchtformen bzw. Schweregrade von Sucht auf analytischer Grundlage vorstellen. Es wäre naiv, der Sucht ganz spezifische Störun­gen zuordnen zu wollen. Wir müssen uns vergegenwärtigen: Der Alkohol ist die Droge unserer Gesell­schaft, mit der wir von Kindheit an praktisch tagtäglich konfrontiert werden. Von daher ist es verständlich, dass es ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, Verläufe, auslösende Situationen und Krisen geben kann, wo der Alko­holkonsum zu entgleisen beginnt und sich eine Suchtkarriere entwickelt. Ausgangspunkt der Diagnostik ist die Frage, aufgrund welcher Anteile seiner Persönlichkeit und seiner Biographie ein Patient den Alkohol zu mißbrauchen begonnen hat, warum er für ihn so eine wichtige Bedeutung bekam. Wenn heute jeder Süchtige mit dem Begriff „Persönlichkeitsstörung“ etikettiert wird, wird m.E. das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, denn nicht bei jeder Sucht liegt zwangsläufig eine frühe oder schwere Störung zugrunde. Das theoretische Modell der Psychoanalyse hat sich bereits zu Freuds Lebenszeiten, erst recht in seiner Nachfolge, zunehmend differenziert, wobei von einer einheitlichen, in sich konsistenten Theorie leider nicht gesprochen werden kann. Mit dem „frühen“ Sigmund Freud selber verbinden wir neben der Traumdeutung vor allem seine Schriften zur Sexualität; wir können die frühe Psychoanalyse etwas vereinfachend auch als eine Triebtheorie bezeichnen, weil sie in besonderm Maße die Entwicklung und Unterdrückung des menschlichen Trieblebens zum Gegenstand hat, zentriert um den sogenannten „Ödipuskomplex“, wo es um die Beziehungsaufnahme zur „Dritten Person“, dem Vater geht. Dies erfolgt etwa ab dem 3 bis 4. Lebensjahr und setzt eine geglückte primäre Entwicklung, d.h. eine insgesamt gelungene Beziehung zur Mutter und die Entstehung einer eigenen Persönlichkeit, eines eigenen „Ichs“ voraus. Nun leitete Freud um 1920 selber eine Wende ein und blickte stärker auf die frühere kindliche Entwicklung, indem er die sogenannte „Ich-Psychologie“oder „Strukturtheorie“ einführte mit den drei Instanzen des Es, Ich und Über-Ich, wobei das Haupinteresse darauf gerichtet wurde, wie sich das „Ich“ des Kindes entwickelt, strukturiert und differenziert. Begriffe wie Ich-Stärke, Ich-Grenzen und die Ich-Funktionen wie Beziehungsfähigkeit, Affektsteuerung und Frustrationstoleranz werden in der Folge diskutiert. Es ist unschwer zu erkennen, daß es hier um elementarere Prozesse geht als im triebpsychologischen Modell mit dem ödipalen Konflikt, Prozesse, die in der Entwicklung des Kindes auch früher liegen. Später verlagerten manche Analytiker ihr Augenmerk auf noch elementarere Entwicklungen und damit auch Störungen, denn auch die „Ich-Psychologie“ setzt ja ein gewisses „Urvertrauen“, eine gelungene Beziehung zur ersten Bezugsperson voraus. Sind jedoch auch die allerersten Entwicklungsschritte gestört, also bereits die Aufnahme der primären Mutterbeziehung, finden wir eine noch tiefergehende Störung. Mit dieser Phase der Entwicklung befaßt sich eine Richtung, die den unschönen Namen „Objektbeziehungstheorie“ trägt. Ich komme hierauf später noch zurück. Diagnostisch wichtig ist zu erfassen, welche Bereiche der Persönlichkeit im jeweili­gen Fall gestört sind und welche spezifische Funktion dem Suchtmittel in der Krankheitsbewältigung zukommt. Notgedrungen sind es immer wieder die schwerwiegenderen Formen und Verläufe, die unser besonderes Augenmerk erfordern, so dass die weniger dramati­schen Fälle nicht so ins Auge fallen. Ich möchte jedoch an dieser Stelle herausheben: grundsätzlich kann jede psychische Struktur zumindest zeitweise zur Grundlage einer Sucht wer­den - selbst die sogenannte Neurose, die für uns Analytiker gewissermaßen das "Normale" darstellt. Sie kann in dem hier verwendeten Sinne ebenfalls die Grundstörung einer Sucht sein. Unsere Erfahrung lehrt allerdings, dass wenigstens dem chronischen Alkoholismus in der Regel eine schwerwiegende, d.h. über die klassische Neurose hinausge­hende Persönlichkeitsstörung zugrunde liegt, was neben dem Alkoholabusus auch eine vielschichtige psychische Symptomatik und eine hohe Bereitschaft zum Symptomwechsel bedeutet.

1. Neurose und Alkoholabusus

Neurosen sind in psychoanalytischer Sicht eine normale Entwicklung mit zu einer relativ reifen, bis zum ödipalen Niveau entwickelten Persönlichkeit. Auf dem ödipalen Niveau geht es um die Beziehungsauf­nahme zur sogenannten "Dritten Person", dem Vater, wobei eine günstig verlaufene Mutter-Kind-Beziehung und die ge­lungene Herausdifferenzierung einer eigenen Identität vor­ausgesetzt werden. Manche neurotische Konflikte können zumin­dest zeitweise zum Anlaß von exzessivem Trinken werden. So können z.B. massive und kaum noch zu ertragende ­Schuldgefühle Ursache von Alkoholmißbrauch sein. Hintergrund ist in vielen Fällen eine ungelebte ödipale Liebe und die nicht bewußt zugelassene Identifikation mit einem alkoholab­hängigen Elternteil - meist dem Vater. Im Trinken wird diese Identifikation ausgelebt, und die eigene Therapie steht stellvertretend für die Hilfe, die dem Vater nicht gegeben werden konnte. Solche Patienten nehmen dann rasch eine Hel­ferrolle ein und werden unter Umständen selber bald Suchtkrankenhelfer. Ein chronischer Alkoholismus ist hier eher selten, so dass ich mir weitere Ausführungen zu dieser Gruppe sparen möchte. Allgemeines Stichwort zu dieser Gruppe: Trinken aus Schuldgefühl.

2. Alkohol als Selbstheilungsmittel

Häufiger finden wir bei Alkoholikern sogenannte "ichschwa­che" Persönlichkeiten. Hier ist durch mangelnde Bestätigung und Förderung des Kindes, gelegentlich auch durch übermäßige Verwöhnung oder infolge einer konstitutionellen Schwäche, das Ich nicht hinreichend entwickelt, um die für das alltägliche Leben erforderlichen Anpassungsleistungen zu vollbringen. Die Affekttoleranz ist gering, oft auch eine Affektdifferenzierung ungenügend geblieben. Gefühle drohen das schwache Ich dann zu überwältigen, die Frustrationstoleranz, die Fähigkeiten zur Realitätsprüfung sind ge­ring. Vor allem sind die Ichgrenzen, sowohl gegen die eigenen, inneren Affekte, wie gegen die von Außen kommenden Ansprüche zu schwach. Der Alkohol ist hier ein zunächst wir­kungsvolles Hilfsmittel, das "Selbstheilungsmittel" eines schwachen Ich. Er dämpft die bedrohlichen Affekte, schirmt gegen die überflutenden äußeren Reize ab, läßt die Welt in einem rosigen Licht erscheinen. Das Problem dabei ist natürlich, dass der Alkohol nichts wirklich verändert, sondern die Probleme, spätestens dann, wenn im Übermaß ge­trunken wird, noch verschärft. Der Betroffene wird in einem Teufelskreis immer unfähiger, seine Gefühle und Beziehungen aus sich heraus zu bewältigen, er geht, wie der Psychoanalytiker Rado das in den dreißiger Jahren nannte, zu einer "pharmakothymen Steuerung" über. Dasselbe gilt na­türlich auch für Medikamenten- und Drogenabhängige. Der Süchtige begegnet uns in der Regel erst dann, wenn dieses System zusammengebrochen ist. Klar ist, dass er nur unter der Bedingung der Abstinenz von der Droge zu be­handeln ist. Dies bedeutet aber auch, dass seine Ichschwäche erst jetzt deutlich wird und ihm zu schaffen macht, weil er seines bisherigen Hilfsmittels beraubt ist. Die Aufgabe der Therapie wird dann sein müssen, seine Fähigkeiten zur Affektdifferenzierung und -tolerierung zu entwickeln, sein Ich zu stärken, die Ichgrenzen zu festigen. Darauf zielen die Behandlungskonzepte der Fachkliniken, die Struktu­ren und äußere Grenzen setzen, an denen der Patient seine Probleme durcharbeiten kann, und die er schließlich verin­nerlichen soll. Das Problem ist, dass es sich um Prozesse handelt, die in der normalen kindlichen Entwicklung einiger Jahre bedürfen und die in einer Therapie nicht beliebig verkürzbar sind. Es gibt immer noch Kliniken, die sich darauf fixieren, den Pa­tienten möglichst trocken über die Behandlungszeit zu bringen und nicht sehen, dass die Therapie keine strukturellen Veränderungen bringen kann, sondern dass die Hausordnung, ein strenges Reglement und therapeutisches Setting nicht mehr als ein Ersatz für die Droge sind und nicht in wenigen Wo­chen oder Monaten verinnerlicht werden können. Nach der Entlassung kommt dann irgendwann der Rückfall, oder es gelingt dem Patienten, sich mittels zwanghafter Rituale oder Ersatzbildungen wie etwa einer Arbeitssucht trocken zu hal­ten. Das ist eine lebenserhaltende Maßnahme, jedoch keine Bearbeitung der strukturellen Ichschwäche des Patienten. Wichtig für diese Patientengruppe ist, um das nochmals ­zusammenzufassen, dass die Droge der Versuch einer - natür­lich zum Scheitern verurteilten - Selbstheilung des Ichs ist, mit ihrer Hilfe die Defizite und Schwächen in den Ich­funktionen kompensiert werden sollen. Dazu möchte ich Ihnen ein Fallbeispiel aus der ambulanten Therapie bringen, in dem sich auch die von mir häufig beobachtete Tendenz zur Symptomverschiebung finden läßt.

Fallbeispiel 1: Der Spieler

Der 32-jährige Patient, von Beruf Handwerker, ist auffallend attraktiv und wirkt vordergründig sehr selbstbewußt. Er ist seit fünf Jahren trockener Alkoholiker, wobei er die erste Zeit der Trockenheit durch eine ausgefallene berufliche Tätigkeit mit 363 Arbeitstagen im Jahr mit jeweils wenig­stens 12 Arbeitsstunden pro Tag überbrückt hat. Eine solche Tätigkeit fand er im Südfrüchtegroßhandel; Südfrüchtelaster rollen werktags wie an Sonn- und Feiertagen. Dank sei­nes Arbeitseinsatzes gelang es ihm bald, für die Leitung der Entladung verantwortlich eingesetzt zu werden. Die Symptoma­tik, wegen der er mich jetzt aufsucht, sind Herzängste, die in der kurios anmutenden panischen Angst gipfeln, bei seiner bevorstehenden Hochzeit entweder bei der Zeremonie in der Kirche vor allen Gästen tot umzufallen, oder vor lauter Pa­nik davon zu stürmen. Ich lasse mich zu einer symptomorien­tierten und in dieser Hinsicht erfolgreichen Therapie ver­leiten, und bringe den Patienten über die Hochzeitszeremo­nie. Anschließend bleibt er jedoch in Behandlung, um seine Brückenphobie zu bearbeiten. Schließlich stellt sich heraus, das sein eigentliches Problem Geldspielautomaten sind, das sich nun zunehmend ausweitet, weil er die Enge seiner Ehe nicht aushalten kann und sich mit den Spielautomaten eine eigene, vor der Ehefrau geschützte Welt aufbaut. Das Geldspiel gewinnt rasch einen süchtigen Charakter. Der Vater des Patienten ist Alkoholiker und überwiegend homosexuell gewesen, brachte oft betrunken Männer mit nach hause. Die Mutter sorgte als kaufmännische Angestellte so­wohl in finanzieller wie in emotionaler Hinsicht für die Familie. Die Eltern ließen sich scheiden, als der Patient circa sieben Jahre alt war. Wenige Jahre später starb der Vater völlig verwahrlost an den Folgen seines Alkoholabusus. Der Patient hatte keinerlei Kontakt mehr zu ihm und erfuhr erst viel später von seinem Tod. Auch habe er keinerlei Erinnerung an ihn, keine inneren Bilder. Ein Identifika­tionsobjekt ist er für ihn nicht gewesen; eine Triangulierung im psychoanalytischen Sinn fand hier nicht statt. Die Mutter hin­gegen überbehütete, umsorgte und idealisierte ihren einzigen Sohn, band ihn eng an sich und gab ihm eine Kronprinzenrolle, die wie die enge Bindung zur Mutter bis zur Therapie bei mir anhielt. In dieser Konstellation lernte der Patient nicht, mit Frustrationen umzugehen und um etwas kämpfen zu müssen. Alles fiel ihm entweder in den Schoß - wie die Liebe der Mutter - oder er gab gleich auf. Er absolvierte das Abitur ohne Schwierigkeiten, erlernte danach ein Handwerk, brach seinen beruflichen Weg aber immer dort ab, wo es schwierig zu werden begann. Sehr frühzeitig begann er zu trinken, was er aber nach den ersten Lebersymptomen und einer kurzen Entwöhnung bereits mit 28 Jahren beendete. Das alles-oder-nichts Prinzip seines Lebens drückte er mit­tels der Spielautomaten aus, wie er sich sein eigenes Refu­gium schaffte angesichts der Unmöglichkeit, sich gegen die Forderungen und Ansprüche der Mutter wie später seiner Ehe­frau abzugrenzen. Die Angst vor dem symbiotischen Verschlungen-werden durch die Mutter bzw. die Frau, das misslingende Streben nach Autonomie sind die zentrale Konflikte dieses Patienten. Auch in der ambulanten Therapie ließ er sich nur sehr schwer einbinden, und es war ein langer Weg, bis sich eine halbwegs tragfähige therapeutische Beziehung herstellen ließ. Er verführt immer wieder dazu, in der Gegenübertragung auf sein Spiel, das er auch mit Menschen betreibt, einzusteigen: man lässt sich von ihm blenden, und übersieht dabei seine pathologischen Seiten. Sein sehr frühzeitiger und konsequenter Ausstieg aus dem Alkohol - angesichts des Auftretens der ersten schwerwiegen­deren körperlichen Symptome – zeigt jedoch, dass er keine nennens­werten selbstzerstörerischen Tendenzen aufweist.

Dies ist, besonders hinsichtlich des Symptomwechsels, im Auftauchen von Angst- und Unruhezuständen, ein durchaus nicht untypischer Verlauf einer Alkoholikerbiographie nach Trockenlegung, wie ich ihn immer wieder beobachten kann. Ziel einer kausalen Therapie auf längere Sicht wäre es, solchen Symptomwechsel und Ersatzbildungen überflüssig zu machen, wobei hier in den Zielsetzungen kleine Brötchen gebacken werden müssen, um keine Rückfälle oder die Flucht in andere Symptome zu provozieren.

3. Sucht als Selbstzerstörung

Ich möchte meinen Faden von vorhin wieder aufgreifen und nach den neurotischen und den ichschwachen Patienten eine dritte Gruppe von "süchtiger Grundstörung" abhandeln, in der es um Selbstzerstörung und nicht um Selbstheilung geht. In meinen Arbeiten genießt diese Gruppe eine besondere Beachtung, da ich der Auffassung bin, dass sie in der Sucht­therapie wie in der Psychoanalyse zu oft vernachlässigt wird, und das wiederum liegt wohl daran, dass wir Therapeuten hier vor der Schwere der Grundstörung kapitulieren oder die Augen verschließen vor dem Ausmaß der allgemeinen Zerstörung, obwohl es hier offen auf der Hand liegt, dass der Alkohol nur ein Symptom unter anderen und eben nicht die Krankheit an sich ist. Ich meine jene Patienten, die uns schon vom ersten Ge­spräch an eine schlimme Biographie entfalten, die voll ist von Traumatisierungen und Unglücken bis weit zurück in die Kindheit. Hier werden wir konfrontiert mit dem Tod von Vater oder Mutter, schlimmsten familiären Exzessen, Mißbrauchserfahrungen oder einer Kette von Unfällen, Krankheiten, Suizidversuchen und eben auch Alkohol- oder Drogenexzessen. Es sind Patienten, die oft haarscharf an der Grenze zum Tod vorbeigeschrammt sind, und wir spüren rasch, dass es hier um ganz existentielle Fragen und Prozesse, um Sein oder Nichtsein geht. Es fehlt diesen Patienten buchstäblich die Erlaubnis zum Leben; in analyti­scher Sprache fehlen die guten inneren Objekte, um leben zu dürfen.

In modernerer psychoanalytischer Terminologie spricht man hier von Störungen auf dem Borderline-Niveau, wobei es nach meiner Einschätzung bei allen fließenden Grenzen doch auch gewisse Unterschiede zu den typischen Borderline-Erkrankun­gen gibt. Zum einen gewinnt bei den meisten Borderline-Pati­enten das Suchtmittel nicht einen solch zentralen und be­ständigen Objektcharakter, sondern der Suchtmittelabusus bleibt ein eher passageres Symptom. Zum zweiten faszinieren viele Borderline-Charaktere als ausgesprochene Lebenskünst­ler, während bei den Süchtigen, die ich hier meine, die Autodestruktion mittels der Droge und anderer Mechanismen im Vordergrund steht. Diese Süchtigen suchen mittels des Alkohols sich selbst re­spective ein verinnerlichtes böses Objekt zu vergiften, wie dies Psychoanalytiker bereits seit den dreißiger Jahren be­schrieben haben. Es handelt sich also um eine basale Störung der Identität, einen Mangel an Urvertrauen, der dazu führt, dass die Selbsterhaltungstriebe, der Überlebenswille gestört sind. Dies erklärt sich für mich am besten auf dem Hintergrund der Theorie Melanie Kleins, die nach Metaphern für die ersten Lebensprozesse des Kindes suchte. Nach ihrer Auffassung erlebt sich das Kind aufgrund seiner noch man­gelnden kognitiven und integrativen Fähigkeiten nicht als eine einheitliche Person und nimmt auch die Mutter nicht als solche wahr, sondern sieht sich den Kräften, die es beein­flussen, hilflos ausgeliefert. Unlusterfahrungen, Schmerz, Hunger und Einsamkeit drohen es zu überwältigen, und es sucht deren Ursache in einer bedrohlichen Macht, der "bösen Brust", zu der es kompensatorisch die „gute Brust" aufbaut, in die es all seine positiven Erfahrungen projiziert. Eine normal günstige Entwicklung vorausgesetzt, sollten die posi­tiven Erfahrungen überwiegen; das Kind identifiziert sich mit der guten Brust, die per Internalisierung zum inneren Objekt und zum Kern seines Selbst wird. Die böse Brust wird oral-kannibalistisch angegriffen und auf diesem Wege aller­dings ebenfalls verinnerlicht. Nach meinem Eindruck ist beim Süchtigen dieser Gruppe die gute Brust zu schwach, und er bleibt auf die Ebene der oral-kannibalistischen Auseinander­setzung mit der bösen Brust fixiert. Ich verdeutliche diese Nicht-Psychoanalytikern schwer ver­ständlichen Metaphern gerne am Prozeß einer anderen Suchtform, der Bulimarexie: Kaum eine Bulimarektikerin ißt mit Genuß, sondern sie stopft das Essen anfallsartig, gierig und voller Wut und Haß in sich hinein, wobei dieser Haß ein tiefsitzender Selbsthaß und der Mechanismus selbstzerstörerisch ist. Ist die Nahrung dann verschlungen, fühlt sich die Bulimarektikerin nicht ge­sättigt, sondern vielmehr vergiftet, denn sie hat in ihrem Anfall die böse Brust verschlungen, und ihre einzige Mög­lichkeit, sie wieder loszuwerden ist, diese Nahrung zu er­brechen. Erst dann hat sie einen Moment der Ruhe und Ent­spannung. Ihr Suchtzirkel ist also darauf gerichtet Nahrung zu vernichten, ins Klo zu befördern, und dies mittels des Umwegs über den eigenen Magen. Ein ähnlicher Mechanismus im ständigen Wechsel von Innen und Außen, Introjektion und Projektion findet sich bei jeder Form autodestruktiver Sucht. Die Sucht bewegt sich permanent an der Grenze von Innen und Außen. Im Gegensatz etwa zum Borderline-Patienten verfügt der Süchtige nicht über eine stabile Gut-böse Spaltung, sondern bleibt gefangen in einer permanenten Ambivalenz. Überwiegend identifiziert ist er jedoch mit der bösen Brust. Das therapeutische Dilemma ist, dass solche Patienten hinsichtlich der Abstinenz oft hochmotiviert sind, diese allein ihnen allerdings wenig nützt, weil sie dann andere Mittel und Wege zur Selbstzerstörung finden. Sie können ihr Leben nicht annehmen, dürfen es sich nicht gut gehen lassen, und da wir in dieser Gruppe zugleich oft recht ichstarke Persönlichkeiten finden, kann das verhängnisvolle Konsequen­zen haben, z.B. die, dass der Patient eben nicht mehr rückfällig wird, sondern, wenn er merkt, dass er es nicht schaffen kann trocken zu leben, sich suizidiert. Alkoholiker sind eine Patienten­gruppe mit einer extrem hohen Suizidquote, besonders die letztgenannten, und dies gerade in Phasen der Abstinenz. Die Gefährdung dieser Patienten durch Suizid, Unfälle, Suchtmittelwechsel oder schwere Erkrankungen, ihre vielfäl­tige Traumatisierung muß in der Therapie unbedingt berück­sichtigt werden. Sadistische Therapierituale können diese Patienten angesichts ihrer Autodestruktivität zumindest zeitweise entlasten, können ihnen helfen zu externalisieren. Synanon in seiner klassischen Form etwa, mit seinen Unterwerfungsritualen mit dem Ziel, das bisherige Ich des Süchtigen zu zerschlagen, entlastete vom Zwang zur Selbstbestrafung und Selbstzerstörung, und ähnlich wirken Fütterungsprozeduren bei Anorektikerinnen. Eine aggressive Gegenübertragung kann hier also hilfreich sein, allerdings nur als eine Externalisierung der psychischen Struktur; sie bringt zunächst keine innere Entwicklung, keine Strukturveränderung. Bei stark autodestruktiven Patienten darf therapeutisch nicht zuviel erwartet werden, und es ist oft schon genug, hier ein Überleben zu ermöglichen. M. E. relativiert sich dabei mitunter sogar der Stellenwert der totalen und dauer­haften Abstinenz, da sie den Patienten dazu führen kann, sich andere und radikalere Wege zu seiner Selbstzerstörung ­zu suchen - z.B. den Suizid. Ich möchte die autodestruktive Dynamik an einem ausführlicheren Fallbeispiel verdeutlichen. Herrn E. habe ich im Juni 1991 kennengelernt, und vielleicht habe ich seinerzeit ein analytisches Grundprinzip, nämlich das große Gewicht der therapeutischen Initialszene, nicht hinreichend berücksichtigt. Im Erstgespräch nämlich sitzt mir ein großer, kräftiger Mann mit einem breiten roten Streifen um den Hals gegenüber. Stockend und schamvoll berichtet er mir, dass er vorgestern am Strick gehangen hat und infolge Luftmangels bereits bewusstlos war. Nach einem Streit mit seiner Frau sei er in die Garage gegangen und habe sich aufgehängt, weil er sich wert- und nutzlos fühle, wenn seine Frau ihn nicht mehr liebe. Er hatte den Suizid nicht angekündigt und ging nach solchen Auseinandersetzungen immer weg. Aber seine Frau hätte einen siebten Sinn gehabt, habe ihn gesucht und übermenschliche Kräfte entwickelt, um ihn bewusstlos herunterzuheben (der Pat. wiegt über zwei Zentner). Dann habe sie den Notarzt gerufen, der ihn reanimieren mußte. Er sei jetzt voller Scham, denn er sei für seine Frau ein schrecklicher Anblick gewesen: bewußtlos, mit blauem Kopf und heraushängender Zunge. Zeitlich erfolgte diese Aktion zwischen der telefonischen Terminvereinbarung bei mir und dem Erstgespräch. Ich bin einigermaßen konsterniert und ratlos; der Patient ist klar orientiert und nicht akut suizidal; ich fühle mich überfordert und habe zugleich das Gefühl, ihn nicht wegschicken zu dürfen; notgedrungen nehme ich ihn in Psychotherapie und muß mich in den folgenden Jahren mit einer Kette schwerster Rückfälle und Suizidversuche auseinander­setzen. Herr E ist ein intelligenter Mann, der Lehramt studiert hat, auch wenn er zum Zeitpunkt des Behandlungsbeginns in diesem Beruf noch keine Anstellung gefunden hatte. Der Vater war bei seiner Geburt bereits 46 Jahre alt, die Mutter 30 und Alkoholikerin. Die Eltern lebten und arbeiteten zu dieser Zeit auf dem Gutshof eines Onkels und einer Tante. Der Onkel starb, die Tante trank sich mit 35 Jahren tot, der Gutshof wurde verkauft. Zu diesem Zeit­punkt war Herr E gerade zwei Jahre alt. Es begann eine Odyssee, die seine gesamte Kindheit und Jugend begleitete. Die Eltern arbeiteten in diversen Kantinen und Kneipen, kauften ein eigenes Lokal, das bald pleite ging und zwangsversteigert wurde. Geld war nie da. Man zog immer wieder um; teilweise gab es für die vierköpfige Familie nicht mal eine Wohnung, sondern alle lebten in einem alten VW-Bus. Dazu der Alkoholismus der Mutter, die Scham, schon als kleiner Junge für sie Schnaps kaufen oder sie betrunken aus irgendwel­chen Kneipen holen zu müssen. Verängstigt und voller Scham wächst er auf, näßt und kotet noch ein, als er schon in der Schule ist, hat nie feste Freunde, weil er immer wieder umziehen muß und sich außerdem als Angehöriger einer Sippe von „Asozialen“ mit einer saufenden Mutter, die er mittags nach der Schule nie nüchtern vorfindet, viel zu minderwertig findet, um Freunde ha­ben zu können. Trotz dieser desolaten Umstände schafft er den Schulabschluß, macht eine Lehre, die es ihm ermöglicht, von den Eltern wegzukommen, findet im Ersatzdienst in einer Klinik viel Anerken­nung und macht daraufhin auf dem Abendgymnasium das Abitur nach, absolviert schließlich auch Studium und das Lehramtsreferendariat. Freunde hat er allerdings wenige, denn er bleibt überaus gehemmt und ängstlich - außer, wenn er trinkt. Vor allem klappt es nicht mit Mädchen, und er ist immer wieder impotent. Er ist 25, als er auf einem Campingplatz in Ungarn ein 17-jähriges Mädchen aus der DDR kennenlernt. Es ist das Jahr 1979, also zehn Jahre vor der „Wende", und von diesem Mädchen fühlt er sich erstmals als „der Mann aus dem reichen Westen" bewundert und anerkannt, so daß er mit ihr seine Impotenz überwinden kann, wobei er sich später allerdings niemals auf eine andere Frau einlassen kann. Viele Jahre später kann er auch erst realisieren, daß er für sie in erster Linie das Sprungbrett in den Westen war. In den folgenden Jahren lebt er für diese Frau, denn sich selbst empfindet er als ein absolutes Nichts, eine wertlose Kreatur ohne jede Existenzberechtigung. Er nimmt seine Mutter bei sich auf, die es einige Jahre vor ihrem Tod nach vielen Behandlungen endlich schafft, trocken zu werden. Zu diesem Zeitpunkt ist er selber bereits Alkoholiker, und es schreckt ihn nicht, daß er sich in Verbindung mit einer im Zivildienst erworbenen Hepatitis B mit seinem Alkoholabusus gesundheitlich massiv gefährdet. Ge­nuß am Alkohol oder Entspannung durch ihn findet er nicht; er ist auf der einen Seite vorbe­lastet durch die Erfahrung mit der Mutter, auf der anderen auch durch eine Reihe eigener Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlungen. Er trinkt quartalsweise, immer nach Konflikten mit seiner Frau, wobei er unter Alkohol nie aggressiv nach Außen wird; diese Besäufnisse sind eine Orgie des Selbsthasses und der Selbstverachtung, wo er sich und der Umwelt immer wieder beweist, was für eine nutzlose Existenz er ist. Es gipfelt dann darin, daß er zu der Überzeugung gelangt, seine Frau wie seine Umwelt insgesamt nur durch seinen Tod erlösen zu können, so daß er immer neue Selbstmordversuche startet. Er entwickelt dabei die ab­strusesten Methoden. Einmal z.B. gräbt er Eisenhutwurzeln aus, säubert und püriert sie und kocht sich daraus eine Suppe, die er ißt. Oder er spritzt sich ein Dutzend Ampullen eines star­ken Herzmittels. Einmal öffnet er an den Armen die Adern, hält sie mit Streichhölzern offen, und läßt sich über einem Eimer bis zur Bewusstlosigkeit ausbluten. Daß die Ehefrau diese Mischung aus Vergötterung ihrer Person bei gleichzeitiger Abhängig­keit von ihr wie vom Alkohol mit seiner massiven Autodestruktivität nicht auf Dauer ertragen kann, versteht sich von selbst. Als sie sich schließlich wirklich von ihm trennt, fühlt er sich im Gefühl seiner Nichtigkeit bestätigt. Herr E. blieb dennoch abstinent, was jedoch seine Depression und seine autodestruktiven Impulse nicht mindern können. Dann kommt es zu einem Agieren von Behörden, das mich bis heute zornig werden lässt. Herr E. hatte Lehramt studiert, war aber aufgrund seiner Noten und einer ungünstigen Fächerwahl nie in den Schuldienst gekommen. Wegen seiner Schwerbehinderung infolge einer im Zivildienst auf der Blutbank zugezogenen Hepatitis B wird er nun völlig überraschend doch als Lehrer eingestellt. Herr E. ist glücklich und erweist sich als ein begeisterter, überaus engagierter Lehrer. Er bekommt in der Sekundarstufe die schwierigsten Klassen im Haupt- und Realschulbereich. Seine Schüler sind auf ihn eingeschworen; er ist allseits beliebt, bekommt beste Beurteilungen und wird von seiner Schule bald – er ist ja Beamter auf Probe – zur vorzeitigen Einstellung als Beamter auf Lebenszeit vorgeschlagen. Aus diesem Grunde muß er sich erneut beim Gesundheitsamt vorstellen, das befindet, dass aufgrund seiner Hepatitis B, wegen der er ja eingestellt wurde, eine vorzeitige Pensionierung drohen könnte. Da er deshalb nicht Beamter auf Lebenszeit werden kann, wird er aus dem Schuldienst entlassen, und weil er bereits Beamter war, kann er nicht als angestellter Lehrer weiterbeschäftigt werden. Die folgenden Jahre sind von einem totalen psychischen wie physischen Zusammenbruch von Herrn E. gekennzeichnet. Auch wenn es wohl gelegentlich zu Rückfällen kommt, erscheinen diese als das kleinere Übel. Er ist sehr depressiv, auch körperlich am Ende. Eine schwere Osteoporose kommt hinzu, die mehrere Rückenwirbel zusammenbrechen lässt. Und immer abstruser werden seine Suizidversuche. Einmal berichtet er mir, vor drei Tagen ein Pfund Rattengift gegessen zu haben. Es sei absolut ekelhaft gewesen, diese Menge runterzuwürgen – und nichts sei passiert. Tags darauf kommt er ins Krankenhaus. Er blutet aus allen Löchern, nach Innen und einfach so durch die Haut – und überlebt auch diesen Angriff auf seine eigene Person. Vor sieben oder acht Jahren ist Herr E. gestorben, mit Anfang 50. Was seinen Tod letztendlich herbeigeführt hat, ob eine Krankheit, Suizid oder der Alkohol, kann ich Ihnen nicht sagen, denn es existieren keine Angehörigen oder Freunde, die ich danach fragen könnte. Letztlich erscheint es mir auch als unwesentlich, denn das Leben des Herrn E., der keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, war eine einzige Orgie der Gewalt gegen sich selbst, die letztendlich nur tödlich enden konnte. Triebkraft der Sucht bei Herrn E. sind neben seinen schweren Depressionen tief sitzende Scham- und Minderwertigkeitsgefühle. Der Alkoholismus der Mutter und anderer Familien­angehöriger hat seine Kindheit von Anfang an überschattet. Ein unbefangenes, geschweige denn ein positives Gefühl dem Alkohol gegenüber hat er niemals entwickelt. Hier gibt es Parallelen zum oben geschilderten Fall von Herrn B, der jedoch im Gegensatz zu Herrn E. auch über gute und stabile Objekte verfügt. Im Trinken verge­genwärtigt er sich immer wieder, wie schlecht und nichtig er ist. Die Therapie konnte nicht mehr leisten, als wahrscheinlich sein Leben zu verlängern. Sein destruktiver Kern war leider nicht zu bearbeiten. Bei schweren Grundstörungen kann auch eine psychoanalytische Therapie nicht im Sinne einer Heilung, d.h. Veränderung dieser Struktur helfen. Psychoanalytische Diagnostik heißt bei einem Fall wie dem vorgestellten gerade, die Grenzen der therapeutischen Mög­lichkeiten zu erkennen und sich vor einem zu stark auf­deckenden Arbeiten zu hüten. Vielleicht sind solche Patienten Extremfälle. Sicher sehe ich als Therapeut, der ambulante Langzeitbehandlungen mit abstinenten Süchtigen durchführt, ohnedies nur diejenigen, die massive Probleme in ihrer Abstinenz haben, deren Grund­störung unerbittlich durchbricht. All die, die gut zurecht­kommen, die Abstinenten in zufriedener Nüchternheit, kommen natürlich nicht. Die Aussage: „solange ich getrunken habe, wußte ich gar nicht, wie schlecht es mir wirklich geht", habe ich jedoch schon von vielen Patienten gehört; ein seit 25 Jahren trockener, 60-jähriger Alkoholiker äußerte immer wieder: „Ich bin lebendig in meinem Tod“. Um die schweren und leidvollen Grundstörungen von Süchtigen aufzufangen, bedürfen wir anderer therapeutischer Konzepte als bisher. Die bisherige Zergliederung in Beratungsstelle mit Mo­tivationsaufgabe, Entgiftung etwa in einer internistischen oder psychiatrischen Klinik, Entwöhnung in einer wohnortfer­nen Fachklinik, weitere Therapie durch eine Nachsorgeeinrichtung, Beratungsstelle oder auch allein gelassen werden mit allen Problemen, die mit der Abstinenz auftauchen, be­stimmen das bisherige Vorgehen.

Das, was diese Patienten am meisten brauchen - eine Beziehung -, analytisch gesprochen: Objektkonstanz in der Behandlung - kann sich hier nicht entwickeln. Die Therapeuten im Suchtbereich wählen eine zergliedernde, distanzierende Behandlungsform, wo sie sich mit dem wahren Elend ihrer Patienten nicht auseinandersetzen müssen, oft sicher auch aus Angst und Selbstschutz vor dem Ausmaß an Destruktivität und Haß, was hinter dem Symptom zunächst verborgen ist Dies unterstreicht nochmals die Notwendigkeit psychoanalytischer Ansätze in der Suchtkrankenbehandlung. Von allen psychotherapeutischen Konzepten verfügt allein die Psychoanalyse über eine komplexe wie differenzierte Theorie der Beziehung, und zwar sowohl was die Genese einer Störung wie ihre Behandlung betrifft. Um hier Robert Knight vom Anfang dieses Vortrags zu ergänzen: mir ist bisher noch kein Alkoholiker begegnet, der auch nüchtern nicht eine offensichtliche Beziehungsstörung aufgewiesen hätte. In jeder Form der Sucht wird das Suchtmittel zum zentralen, oft einzigen Beziehungs- und ambivalent besetzten Liebesobjekt. Diese Beziehungsstörung, die zum Rückzug von den personalen Liebesobjekten hin auf chemische Substanzen geführt hat, ist nicht einfach durch den Entzug rückgängig zu machen und verschwindet auch nicht in einer – wie auch immer angelegten – kurzen oder symptomorientierten Therapie. Falls sie überhaupt bearbeitbar ist wird dies nur in einer längerfristig angelegten Behandlung möglich sein, in der mittels der Bewusstmachung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen an den Beziehungsmustern gearbeitet wird. In langjährig angelegten Therapieverläufen – oft mit langen Unterbrechungen, so dass ich sie persönlich als eine „Intervalltherapie“ bezeichne – kann ich dabei durchaus sehr positive Entwicklungen erleben. In der Langzeitkatamnese ist der Behandlungsverlauf und die Prognose bei Süchtigen keinesfalls schlechter als bei anderen schweren psychischen Erkrankungen oder Persönlichkeitsstörungen, wobei die Abstinenzmotivation der Patienten stets ernst genommen und unterstützt werden sollte, da ich mir nicht anmaßen würde, auch nach langer Behandlung die in einem Rückfall wach gerufenen Geister beherrschen zu können.

4. Ausblick

Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, mein Anliegen deutlich zu machen. Mit meinen problematischen Fällen wollte ich auch aufzeigen, was Psychoanalyse nicht leisten und bieten kann. Gerade im Bereich der Suchttherapie ist sie kein All­heilmittel, kann sie keine Wunder bewirken. Nur wenig eingehen kann ich hier auf die notwendige Modifikation der analy­tischen Arbeit. Eine übertriebene therapeutische Abstinenz, ein hartnäckiges Schweigen des Behandlers, das Couch-Setting und eine forcierte Regression haben in der Behandlung von Süchtigen keinen Platz. Direkte Stellungnahmen und deutliche Interventionen, das Benennen und Spiegeln von Gefühlen, mitunter auch ein eher direktives Arbeiten sind dagegen nötig. Egal, von welcher Schulrichtung wir herkommen: therapeutisch gesehen kochen wir hier alle ­nur mit Wasser. Was die psychodynamische Sichtweise aber leisten kann ist der Blick hinter die Kulissen des Symptoms. Ich habe versucht, deutlich zu machen, wie viel Leid und Elend hinter dem Symptom verborgen ist, oft erst mit der Abstinenz auftaucht, und wie lange und dornig der zurückzule­gende Weg dann noch ist. Eine psychoanalytische Sichtweise kann am ehesten den Blick auf die Gesamtpersönlichkeit und deren Lebens- und Leidensweg schärfen, wirft auch manches kritische Schlaglicht auf die gängige Praxis der Suchtbehandlung. Die Diagnostik sollte dabei natürlich im Einzelfall in einer viel differenzierteren Form erfolgen, als ich es hier mit meiner groben Unterscheidung anreißen konnte, sowohl was die Genese der Störung wie die Zielsetzung der Behandlung betrifft. Für eine erste Diagnose erscheint mir die Orientierung an der Achse Selbstheilung versus Selbstzerstörung bzw. Reife und Lebensfähigkeit der betreffenden Person aber nach wie vor ein brauchbares Hilfsmittel zu sein.

 

Literatur:

Adams, W.: Psychoanalysis of Drug Dependence. New York-San Francisco-London 1978.

Grawe, Klaus: Psychotherapie im Wandel. Göttingen (Hogrefe) 1994.

Knight, Robert P.: Zur Dynamik und Therapie des chronischen Alkoholismus. Int. Z. Psa. 23, 1937, S. 429-442.

Menninger, Karl: Selbstzerstörung. Frankfurt (Suhrkamp) 1974.

Möhl, Manfred: Zur Psychodynamik des Todes in der Trunksucht. Versuch einer tiefenpsychologisch-anthropologischen Deutung. Würzburg (Königshausen & Neumann) 1993.

Radò, Sandor: Psychoanalyse der Pharmakothymie. Int. Z. Psa. 20, 1934, S. 16 – 32.

Rost, Wolf-Detlef: Psychoanalyse des Alkoholismus. Stuttgart (Klett-Cotta) 1987.

Wurmser, Leon: Die verborgene Dimension. Psychodynamik des Drogenzwangs. Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 1997.